“Also, ich bin alt und lange hier — bei mir gibt es keine kurzen Geschichten.”

Interview mit Jörg Fügmann, Geschäftsführer und Vorstandsmitglied der Brotfabrik. An interview with Jörg Fügmann, managing director and board member of Brotfabrik. For the English version, please check this link.

Die Brotfabrik ist höchstwahrscheinlich der erste Ort, der einem einfällt, wenn jemand nach kulturellen Hotspots in Weißensee fragt. Daher war ein Gespräch mit ihrem Geschäftsführer Jörg Fügmann die erste Wahl für uns in dieser Interviewreihe mit Visionären aus Weißensee. Jörg stimmte dem Interview zögerlich zu: “Eigentlich wollte ich mich aus der vorderen Linie zurückziehen und anderen das Wort überlassen.” Glücklicherweise wurde eine Ausnahme gemacht, da wir glaubten, dass er eine einzigartige Perspektive auf die Entwicklung und Zukunft des Langhanskiez mit einem leuchtenden Beispiel für den Caligariplatz mitbringen könnte, einem Platz vor der Brotfabrik, den Jörg und der Glashaus e.V. vor 20 Jahren zum Leben erweckt haben.

Wir trafen uns zu einem Gespräch und einem Morgenkaffee in Jörgs Büro im oberen Stockwerk der Brotfabrik. Die Wände waren mit Regalen voller Ordner und Papiere bedeckt, das Fenster zeigte zum Dach – zu einer bestimmten Zeit kamen dort Tauben hin und warteten ungeduldig auf das Futter, das Jörg jeden Tag als eine seiner Routineaktivitäten gab. Dort lernte ich auch Inci kennen, die wütende Katze vom riesigen Plakat an der Fassade der Brotfabrik. “Nicht kuschelig, seit 30 Jahren” – das Schild spiegelt die Philosophie des Kulturzentrums Brotfabrik wider.

Jörg in seinem Büro
Inci, die Katze von Brotfabrik

Projekt Caligariplatz

Katya: Ich habe erst vor kurzem festgestellt, dass Caligariplatz früher überhaupt kein Platz war, sondern eine Kreuzung. Ich habe es auf der Webseite gelesen, dass ihr mit dieser Idee gekommen seid, die in einen Platz zu verwandeln und einen Namen zu geben. Wie habt ihr es geschafft und wer seid “ihr”?

Jörg: Ganz kurz zur Geschichte. Also, bis 1920 ungefähr standen auf dem Platz vor uns noch mehrere Häuser. Diese waren in einem schlechten Zustand und wurden Anfang der 20er Jahre abgerissen. Ein Ersatzhaus genau vor unserer Fassade wurde errichtet, das später im Krieg beschädigt und in den 50er Jahren abgerissen wurde. Praktisch, seitdem gab es erst diese Fläche überhaupt.

“Um die Jahrtausendwende haben wir dann mal gesagt, das ist doch eigentlich ein Platz, der könnte auch einen Namen haben.”

Der Platz war jedoch eingeschränkt, da die Heinersdorfer Straße durch ihn hindurchlief. Später wurde die Straßenbahnlinie aus der Gustav-Adolf-Strasse in Langhansstraße verlegt und Heinersdorfer Straße gekappt. Erst dann entstand die heutige Platzfläche. In den 60er Jahren wurde vor unserem Haus eine Toilette errichtet. In den 90er Jahren gab es hier einen sehr aktiven Wochenmarkt, der jedoch später verschwand. Der Platz sah ehrlich gesagt auch scheiße aus.

Um die Jahrtausendwende haben wir dann mal gesagt, das ist doch eigentlich ein Platz, der könnte auch einen Namen haben. Wir waren ein Jugendclub und haben dann ein Verein gegründet. Wir hatten in den 90er Jahren genug mit uns zu tun, selber viel gebaut und viel gemacht. Wir haben uns um draußen nicht so viel gekümmert, weil wir dazu keine Kraft hatten. Das hat sich so gegen 2001 bisschen geändert.

Also, es war immer klar, dass der Name etwas mit Film zu tun haben sollte. Letztendlich haben wir uns doch für den Namen “Caligariplatz” entschieden, auch wenn er nach einer Fantasiefigur aus dem Film Das Cabinet des Dr. Caligari benannt ist. Wir haben den Antrag beim Bezirk gestellt und es wurde relativ schnell genehmigt. Wir haben im September 2001  ein selbstgemachtes Straßenschild aufgestellt, später wurden offizielle Straßenschilder angefertigt, die von einem Unternehmer bezahlt wurden. Somit haben wir offiziell unsere Adresse – Caligariplatz 1, was natürlich für ein Kulturzentrum toll ist!

Katya: Wie lief es weiter?

Jörg: Mit der Namensänderung des Platzes sollte auch sein Aussehen verändert werden. Dazu initiierte der Glashaus e.V. eine Bürgerbewegung, in deren Rahmen sich Anwohner*innen sowie Markt- und Gewerbetreiber*innen einbringen konnten. Für die Gestaltung wurden verschiedene Universitäten, Hochschulen und Künstler*innen angeschrieben. Es wurden 42 Entwürfe eingereicht, die im September 2001 im Kino Delphi ausgestellt werden konnten.

Während dieser Ausstellung erreichte uns die so genannte Anwohnerinformation, dass die Prenzlauer Promenade zwischen der Kreuzung und am Steinberg komplett umgebaut wird, und daher wird der Platz anschließend neu gepflastert. Wir dachten, dass dies eine gute Gelegenheit wäre, um gemeinsam etwas zu gestalten, aber es ist völlig absurd für Deutschland.

Der Platz gehört zum Bezirk, aber die Straße gehört dem Land Berlin. Diese übergeordnete Straße führt zur Autobahn und verläuft unter anderem durch das Brandenburger Tor, die Siegessäule, den Ernst-Reuter-Platz und die Bismarckstraße. Der Senat hat uns dann gesagt, dass wir für die Vorschläge zur Gestaltung des Platzes in dieser Zeit zuständig sind und dass wir dazu die 75.000€, die sie fürs Pflastern eingeplant haben, dafür haben konnten. Im Januar 2003 hat sich eine ie Jury für die Idee von Susann Becker und Kerstin Gehring entschieden.

Du siehst, dass es etwas anders aussieht, als es jetzt aussieht. Auf dem Entwurf sind die Formen fließend, dass da kein Viereck wirklich viereckig ist. Witzigerweise war ich genau in dem Moment in Portugal. Da siehst du überall die Straßenpflaster, großartige Mosaike und Formen. Kommst du nach Deutschland und dann sagen die, es muss viereckig sein. So, also haben sie da die viereckige Lösung draus gemacht, die du jetzt siehst. Aus Kostengründen konnten wir nicht alle geplanten Elemente umsetzen, deswegen wirkt der Platz so ein bisschen kahl.

Was könnte noch verändert werden? Erstens, es gibt, zum Beispiel, dieses komische Ding, wo man wenden kann, der sogenannte Wendehammer. Wir wollten, dass der verschwindet und der Platz an unserer Stelle beginnt, anstatt dass dort die Straße weitergeht. Momentan gibt es ein Problem mit den Fahrrädern auf dem Platz. Der wird jetzt täglich fast rund um die Uhr zerteilt von den rasenden Fahrradfahrern. Wenn sie jetzt auch noch einen breiten Fahrradweg über den Platz malen, würden die Radfahrer nur noch schneller rasen, und diese Lösung würde außerdem den Platz weiter aufteilen. In dieser Situation lehne ich mich da eigentlich ein bisschen zurück, weil ich Kultur studiert habe, und Stadtplanung, Verkehrsplanung ist nicht meins ist. Dafür haben andere Leute studiert. Und von denen erwarte ich eine vernünftige Lösung.

Katya: Fast zwei Jahrzehnte sind vergangen, seit dieser Platz entstanden ist. Bist du mit seinem aktuellen Zustand zufrieden?

Jörg: Ich werde mal politisch werden. Ich komme aus der DDR und wurde von älteren Männern regiert, die den Krieg erlebt haben. Sie haben irgendwann ein Land geschaffen, in dem es keinen Krieg, keine zerstörten Häuser, keinen Hunger und keine Arbeitslosigkeit gab. Für sie war das eine enorme Errungenschaft, das zu schaffen. Ich mache ihnen deswegen keinen Vorwurf. Die folgende Generation aber wollte mehr, für sie reichte das bisher Erreichte nur als Grundlage. Wir haben es also mit unterschiedlichen Erwartungen zu tun. Das ist bei unserem Platz jetzt genauso: 

Ich verstehe, dass einige Leute damit nicht zufrieden sind, weil sie das als Grundlage zum Weiterdenken nehmen; meine Grundlage war ganz woanders. Da sind wir nur als ein kleiner Verein weit gekommen. Wenn Menschen in diese Richtung weiterentwickeln möchten, bin ich bereit, zuzustimmen. Wir möchten uns nicht mehr an die Spitze setzen, aber man kann auf unsere Unterstützung zählen.

KIEZ:MOBIL auf dem Caligariplatz

Katya: Es wird viel über die Aktivierung des Platzes gesprochen. Was verstehst du darunter?

Jörg: Ich bin immer etwas ratlos und frage mich, was ihr eigentlich damit meint. Wir haben eine interessante Erfahrung am 14. August 2022 beim Kultursommer, der von uns für den  vom Senat organisiert wurde. Es gab bestimmte Ausstattungsgegenstände wie Palmen und Liegestühle. Ich habe gesehen, dass es vielen Menschen ausgereicht hat. Sie brauchten keine kulturellen Veranstaltungen oder Theaterstücke. Sie haben sich einfach getroffen, entspannt und sich entweder mit sich selbst oder mit anderen unterhalten. Das könnte eine Möglichkeit sein, wenn man das auch zukünftig für den Platz schafft. Einfach ohne viel Schnickschnack. Mehr Bänke oder andere Sitzmöglichkeiten wären gut.


Brache Zukunft

Katya: Gibt es Hoffnung, dass etwas anderes als kommerzielle Gebäude auf der Brache hinter der Brotfabrik entsteht?

Jörg: Die Geschichte ist verrückt. Früher war alles bebaut, aber im Krieg wurden die Gebäude zerstört. Dann wurde dort ein Lagerplatz errichtet. Nach der Wende eröffnete eine Autowerkstatt dort. Als diese schloss, kaufte ein libanesischer Investor die Grundstücke. Er ließ das Gebäude in der Mitte abreißen und einen Parkplatz anlegen. Es entstand ein Getränkehandel und ein Bürohaus.

Festival “Brache Zukunft”. Foto: Brotfabrik

Ursprünglich war ein Wohnungsbauprojekt geplant, bei dem alles abgerissen werden sollte. Wir haben uns dagegen gewehrt, da Kultureinrichtungen neben Wohnhäusern immer problematisch sind. Wir haben eine physikalische Herausforderung: wir befinden uns praktisch an der Spitze eines Trichters. Wenn wir laut gewesen wären, hätte sich der Lärm über den ganzen Hof ausgebreitet. Deshalb haben wir uns eingebracht und versucht, den Bezirk  zu sensibilisieren Dann kaufte Cresco das Gelände. Ursprünglich sollten auf dieser Brache Mikroapartments für wohlhabende Studierenden entstehen. Wir durften die Fläche zeitweise für das Festival „Brache Zukunft“ nutzen. Sie planten vor zwei Jahren mit dem Bau zu beginnen, doch bisher ist nichts passiert.


Kiezplatz: unser schönstes, aber auch unser gescheitertes Projekt

Katya: Es gab es von euch eine Initiative auf einem anderen Brachgelände an der Ecke Gustav-Adolf-Straße und Streustraße. Kannst du mir etwas mehr über dieses Gelände erzählen?

Jörg: Vorher war es ein Ruinengrundstück mit einem kleinen Hügel und einem Haus daneben, das zum Verkauf stand. Die ganze Fläche hat etwa 150.000 € gekostet. Als sich damals die Chance bot, hat niemand sie ergriffen. Jede Initiative hätte das mit politischem Druck auf den Bezirk oder den Senat oder durch Spenden problemlos erreichen können. Das ist keine Spinnerei, keine Utopie. Das ist normale Entwicklungspolitik für ein so dicht besiedeltes Wohngebiet, das zuvor nichts hatte.

Das Grundstück stand leer. Wir haben dann eine Initiative gestartet, zusammen mit dem Technischen Hilfswerk. Zuerst haben wir den Schutt entfernt und den Platz umgestaltet. Wir haben eine kleine Förderung erhalten, aber es hat nicht viel gekostet. Wir haben einen Bauwagen, einen Grillplatz und eine Tischtennisplatte aufgestellt.

“Warum soll ich an einem öffentlichen Platz mitarbeiten? Das ist doch gar nicht meine Aufgabe

Als wir dort arbeiteten, liefen Passanten vorbei und sprachen darüber. Die wussten schon, was wir da machen. Doch für die Leute herrschte immer noch die typische deutsche Behördenhaltung. Warum sollte ich an einem öffentlichen Ort mitarbeiten? Das ist doch gar nicht meine Aufgabe. Einen öffentlichen Platz macht die öffentliche Hand. Doch nicht ich als Mensch, als Bürger. Das ist genau die Verkörperung dieser Behördenidee. Was willst du auf meiner Straße? Warum hast du eine Bank an meinen Baum gestellt? So, ist jetzt ein bisschen lockerer geworden, weil es ja auch Ärger gegeben hat. Aber am Anfang haben die Leute ja kleine Blümchen gepflanzt und dann kam das alles weg.

Katya: Wie lange dauerte dieses Projekt?

Jörg: Vielleicht 1,5 Jahre. Es endete, weil das Grundstück verkauft wurde. Die Eigentümer*innen haben es dann selbst bebaut. Es war unser schönstes, aber auch unser gescheitertes Projekt, weil es uns nicht gelungen ist, die Anwohner*innen mit einzubeziehen. Gleichzeitig sind wir nur ein Kulturzentrum. Wir wollten etwas anstoßen. Wir wollten Impulse in den Kiez bringen.

Das wäre jetzt anders gewesen. Es gibt sicherlich andere Grundstücke oder Flächen, aber jetzt sind sie alle Gold wert. Da müssten wir jemanden aus der Politik an Bord holen, der offiziell an die Immobilien herangeht und sagt, dass wir – die Öffentlichkeit, die Anwohner*innen, der Bezirk – Interessen haben.

Katya: Gibt es in Weißensee Proteste? Gibt es Bürgerinitiativen?

Jörg: Ja, es gibt Bürgerinitiativen, aber wir gehen nicht auf die Straße, um zu protestieren. Und das ist einfach schade.

Ich habe da zwei verschiedene Ansichten. Zum einen habe ich ein skeptisches Weltbild. Es gibt Neubauten mit einem Spielplatz, einer Grünanlage und einem Fahrradhaus. Sie haben alles, was sie brauchen. Die Zugezogenen, die ‘Bösen’. Sie müssen sich nicht im Viertel engagieren. Wozu auch? Wenn sie Grünflächen möchten, gehen sie einfach in ihren eigenen Hof. Sie gehen morgens zur Arbeit und kommen abends wieder.

Auf der anderen Seite gibt es auch Menschen, die gerade erst zugezogen sind und sich aktiv beteiligen. Es gab eine Frau, die sich dafür eingesetzt hat, einen Gemeinschaftsgarten an der Ecke Goethestraße und Lederstraße zu gründen. Da dachte ich, vielleicht wird doch etwas erreicht. Es ist nicht fair, ihnen vorzuwerfen, dass sie Eigentum besitzen. Es ist zu einfach, sie deshalb zu beschuldigen. Wo sollen sie denn sonst hingehen? Aber um ehrlich zu sein, wird fast ausschließlich Eigentum gebaut.

Weißt du, ich schätze auch die Ruhe. Ich lese gerne, gerne auch mit meiner Familie und so weiter. Ich brauche nicht unbedingt Menschenmassen um mich herum. Aber natürlich finde ich es trotzdem schöner, in einem Viertel zu leben, in dem die Menschen nicht isoliert sind, in dem sie einander wichtig sind, in dem sich draußen etwas entwickelt und das auch nach außen strahlt. Außerdem ist es mein Job, für die Öffentlichkeit zu arbeiten, für die Menschen da zu sein. Manchmal vergessen meine Kollegen das ein wenig. Es wird zu viel Wert auf Kunst gelegt und zu wenig auf die Menschen als Ziel. Aber mein Ziel ist es, für die Menschen zu arbeiten. Das mag groß klingen, aber dafür sind wir da.