Dr. Ines Eben v. Racknitz is associate professor of Chinese history at Nanjing University. She has studied sinology, history, and literature in Germany, China and the United States. Her interest is in late Qing Chinese history, imperial culture, entangled Western and Chinese history, and also in the colonial history of treaty ports like Hankou.
Am Vorabend der Abreise nach dem dreitägigen Symposium „Regions on the Rise: Culture and Architecture as Drivers for Rural Development” vom 8.-10. November 2018 in Songyang, China, sprachen ZHANG Zhen und Kika YANG mit Dr. Eduard Kögel (Architekturhistoriker; Kurator bei Aedes Berlin), Andreas Ruby (Direktor des Schweizerischen Architekturmuseums) und Erhard An-He Kinzelbach (Professor für Architektur an der Hochschule Bochum und Gründer von KNOWSPACE) über ihre persönlichen China-Erfahrungen, Inspirationen durch Songyang sowie Planungskultur in China. Den Impuls für das Symposium, das von Aedes Architekturforum & Network Campus Berlin konzeptualisiert wurde, hatte die Ausstellung „Rural Moves – The Songyang Story“ gegeben, die Aedes im Frühjahr 2018 in Berlin präsentiert hatte.
Kika Yang (KY): Eduard, du hast schon seit Jahren eine persönliche Verbindung zu China. Ich möchte von Dir mehr über den Kontrast zwischen deinen ersten Kontakten und Eindrücken generell in China und nun in Songyang erfahren.
Eduard Kögel (EK): Mitte der 1990er Jahre hatte ich als Freiraumplaner zusammen mit den Architektinnen Jennifer Meitzner und Claudia Funk einen ersten Auftrag in China. Der Auftrag kam von einer deutschen Firma, und wir planten Details bis zum Maßstab 1:5. Der Bauunternehmer wollte nicht nach so detaillierten Plänen bauen, denn auf dem Land baute man damals nach Plänen 1:100. Es gab damals keine Baugenehmigungen oder irgendwelche Institute, die involviert wurden. Wir wollten von anderen deutschen Architekten in China lernen und haben dann festgestellt, dass wir die ersten sind. Wir mussten selbst definieren, wie das funktionieren sollte. Es war eine sehr inspirierende Erfahrung. Die Frage nach historischen Referenzen brachte mich dann auf Seitenwegen zur Baugeschichte.
KY: Das mit dem „Der-Erste-Sein“: wie ist das mit den anderen Europäern, also Nicht-Deutschen?
EK: Eigentlich ist man fast nie der allererste, und man muss nach Referenzen suchen. Viele Europäer glauben noch immer, Globalisierung sei mit Export gleichzusetzen und nicht mit Austausch. In den 1990er Jahren waren die Chinesen total genervt, weil sie merkten, dass die Amerikaner ihre Kopien aus den untersten Schubladen verkauften, die sie anderswo schon dreimal gebaut hatten. Dieser Effekt ist auf eine andere Art mit den Europäern ähnlich gekommen; es werden zwar keine Kopien verkauft, aber konzeptionell bearbeitet man die realen Probleme vor Ort nur bedingt.
ZHANG Zhen (ZZ): Andreas Ruby, was sind Deine China-Erfahrungen, oder wie ist der erste Eindruck?
Andreas Ruby (AR): Ich war vorher schon mal in China, aber noch nie auf dem Land. Das war eine nicht so intensive Erfahrung und hat eher Stereotype bedient: die Turbo-Urbanisierung und die Riesen-Dimensionen und so weiter. Dann sah ich die Ausstellung bei Aedes und entdeckte ein anderes China. Nun in Songyang zu sein und die Sachen vor Ort sehen zu können, ist natürlich eine tolle Sache.
Erhard An-He Kinzelbach (EAK): Abgesehen von meinem biografischen China-Bezug hatte die Erfahrung mit China sowohl auf meine Praxis als Architekt als auch auf meine Arbeit als Hochschullehrer großen Einfluss. Mein allererstes Projekt als selbständiger Architekt war in China: ein sehr kleines Projekt Mitte der 2000er Jahre, ein Pavillon im Jinhua Architecture Park von AI Weiwei, an dem übrigens auch XU Tiantian als Architektin involviert war. Und dann habe ich natürlich in der Lehre während meiner Professur an der China Academy of Art in Hangzhou, an der Schule von WANG Shu, wichtige Erfahrung sammeln können. Aus dieser Zeit stammt auch meine Beschäftigung mit dem Ländlichen, einer Thematik, die in meiner Architekturpraxis bis dato noch keine wesentliche Rolle gespielt hatte.
ZZ: Eduard – warst Du vorher schon in Songyang gewesen, oder ist das jetzt das erste Mal?
EK: XU Tiantian hat mich, Hans-Jürgen Commerell (Aedes) und den Filmer Moritz Dirks (Reframe) im Spätsommer 2017 nach Songyang eingeladen um die Region kennenzulernen und ein Konzept für eine Ausstellung in der Galerie Aedes in Berlin zu entwickeln, die später auch auf der Biennale in Venedig zu sehen war. Wir beschlossen relativ früh die Projekte mit Filmen zu begleiten, in denen die Bauarbeiter oder die Nutzer zu Wort kommen. Das war sehr eindrücklich, und wir waren viel in den Dörfern unterwegs. Nachdem die Ausstellung konzipiert war, schlug Hans-Jürgen vor, eine internationale Konferenz vor Ort zu machen und wie man jetzt gemerkt hat, war das eine richtige Entscheidung.
ZZ: Ausgehend von „The Songyang Story“ – welche Rolle kann Architektur bei einem Adaptionsprozess spielen? Wenn wir über Koproduktion reden und über Architektur als Akupunktur, dann meinen wir ja auch damit die mögliche systemische Auswirkung auf ökologische, soziale und gesellschaftliche Zusammenhänge, auch auf das Zusammenleben und das Weiterführen von Technik und Alltag. Was ist Euer Standpunkt dazu?
EK: Die lokale Bevölkerung steht zeitgenössischer Architektur eher reserviert gegenüber. Wenn man sie nach ihren Vorstellungen fragte, wollten sie so etwas Ähnliches wie einen Tempel haben, nur in Neu, oder sie wollten eine Kopie aus Shanghai. Die Architektur, die XU Tiantian ihnen lieferte, war zu Anfang eine große Herausforderung, die viel Kommunikation benötigte. Ein gutes Beispiel ist die Zuckerfabrik: Über die Manufaktur hinaus ist sie ein öffentlicher Raum für das Dorf. Durch solche positiven öffentlichen Wirkungen war es danach einfacher, neue Projekte umzusetzen. Mir ist es egal, ob man das Akupunktur nennt. Eigentlich geht es darum, mit kleinen Eingriffen eine neue Identität herzustellen. Die alten Stampflehmbauten zum Beispiel stehen häufig leer, und die Bewohner haben sich daneben ein neues Betonhaus mit zwei, drei Geschossen gebaut, das relativ hässlich ist. Die Altbauten verfallen, weil sie kulturell entwertet sind und in den letzten fünfzig Jahren niemand mehr investiert hat.
KY: Der Begriff Akupunktur wurde in einem der Vorträge so verstanden: es ginge nicht um die Punkte oder um die Objekte, sondern darum, Blockaden zu lösen.
EAK: Mir erscheint der selbstverstärkende Effekt hier sehr wichtig. Die Konferenz ist eigentlich auch ein Baustein dieses selbstverstärkenden Effektes: da ist der Prophet, der aus der Fremde kommt und sagt: ‚Das ist aber toll!‘, und plötzlich findet das ganze Land das auch sehr gut. Ein solcher Effekt kann selbstverständlich erst einsetzen, nachdem es eine Initialzündung gegeben hat. Wie diese zustande kommt, ist fast am Wichtigsten. Dafür müssen unterschiedliche Dinge zusammen kommen, zum Beispiel der zeitliche Kontext, eine politische Struktur und auch die zeitliche Koinzidenz mit einer nationalen Direktive. Hier ist dieser Prozess des Zusammenkommens schneller und einfacher möglich als in anderen Kontexten. Die Architektur spielt bei alledem als Akteur nur eine kleine Rolle, sie kann jedoch vielleicht das Zünglein an der Waage sein. Wenn man das Songyang-Modell nun als Vorbild betrachtet, so muss man sich dessen bewusst sein, dass es natürlich auch ein sehr fragiles Modell ist. Denn es ist abhängig von ganz wenigen Personen.
EK: Bei einigen der Bauten von XU Tiantian ist die Form völlig unwichtig, sondern die Frage der Programmierung und auf welche Weise die Community einbezogen wurde, bestimmen die Qualität. Würde XU Tiantian sich aus Songyang zurückziehen, wäre das ein Desaster, und wenn WANG Jun, der Parteisekretär, nicht mehr da wäre, ebenfalls. Vermutlich gibt es in der Administration auch einige, auf die man nicht verzichten kann. Es braucht eine Gruppendynamik und eine Kreativität aus unterschiedlichen Richtungen, um sich vorstellen zu können, was man da eigentlich will. Aber auch den Willen, diese Dinge kritisch immer weiter zu entwickeln.
ZZ: Es geht also nicht ums Detail, das Bild, und nicht unbedingt um das Objekt selber, sondern manchmal um einen Ausblick oder um die Umgebung, die um das Objekt herum geschaffen wird, und auch um Programme und das gemeinsame Leben dort. Habt Ihr den Eindruck, dass gerade diese sozialen oder programmatischen Aspekte in der Architektur durch Ausstellungsbilder und Award-Presseerklärungen von den Architekten und auch dem Publikum missverstanden worden sind?
EK: Letztlich muss man hier gewesen sein um besser zu verstehen, wie die Projekte eingebunden sind und welchen Effekt sie hervorrufen. Heutzutage ist Architekturfotografie extrem wichtig, und sehr häufig wirkt sie isolierend, weil sie viele Dinge aus- und nicht einblendet. Da ist auch die Architekturkommunikation aufgefordert, neue Leitbilder zu entwickeln, wie man über Architektur mit den Nutzern kommuniziert.
EAK: Da ist der Film vielleicht genau das richtige Medium, weil die Zeit-Komponente besser eingefangen werden kann. Nehmen wir zum Beispiel die Zuckerfabrik, die nur drei Monate im Jahr produziert, und dann eigentlich neun Monate leer stehen würde. Nach der Einweihung stellte sich heraus, dass sich nach und nach andere Programme den Raum aneignen, und die Zuckerfabrik so zu einer Art Community-Center für alle möglichen anderen Aktivitäten wurde, die bisher im Dorf buchstäblich keinen Ort hatten.
EK: Der Bürgermeister hat zu uns über die Zuckerfabrik gesagt, dass sie zum ersten Mal einen Raum für die Dorfgemeinschaft haben. Zuvor ist man von Haustür zur Haustür gegangen und hat mit jedem geredet. Aber plötzlich haben sie einen Raum, in dem man sich trifft. Das ist für die Ge-meinschaft extrem inspirierend.
ZZ: Wir haben jetzt einen Eindruck über Dörfer in China erhalten. Soll man Stadt und Land als Kontinuum verstehen? Wie nehmt ihr die Entwicklung von Stadt und Land in China wahr?
EK: Das ist ein langer Weg. Über Jahrzehnte zogen die Leute auf der Suche nach Arbeit vom Land in die Stadt. Jetzt fehlt die Identifikation mit dem Land. Man müsste Anreize schaffen und auch dafür sorgen, dass die Bewohner ein Auskommen auf dem Land haben. Wenn das nicht gelingt, ist alles umsonst. Das bedeutet, es müssen neue Konzepte entwickelt werden, die es ermöglichen, dass man wählen kann, ob man lieber in der Stadt oder auf dem Land lebt, oder möglicherweise halb und halb. Historisch war es in China nie so, dass Stadtluft frei gemacht hat, sondern im Gegenteil, wenn man seine Freiheit wollte, zog man aus der Stadt aufs Land. Insofern gibt es historisch gesehen eine positive Erinnerung an das Landleben.
KY: Andreas hat als Moderator gesagt, dass es um den Lebensstil geht und nicht unbedingt um die Räumlichkeit an sich.
AR: Es entstehen gerade neue Konzepte der Nutzung für den ruralen Raum, die dem 21. Jahrhundert entsprechen und diesen von seiner Konnotation der Rückständigkeit und des Modernitäts-Verlierers befreit. Der ländliche Raum ist seit dem 19. Jahrhundert immer mehr zu einem Raum des Verlassenwerdens geworden, und verwandelt sich erst jetzt möglicherweise in einen Raum des Wiedererobertwerdens. Das wird natürlich durch neue Technologien, wie die Digitalisierung ermöglicht und neue Formen des Handels, die durch Digitalisierung ermöglicht werden sowie durch eine neue Form der Mobilisierung des ländlichen Raumes mit neuen Transportmitteln. Die Prophezeiung von Rem Kohlhaas aus den 90er Jahren, nach der alles auf die Stadt hinführt und alle Menschen in Städten wohnen werden, ist mittlerweile von der Realität widerlegt und auch von ihm selbst retroaktiv relativiert. Und es kann tatsächlich sein, dass aufgrund eines gewissen Exzesses der Urbanitätsbeschleunigung in China hier zum ersten Mal eine Entropie des Urbanen empfunden wird: das Gefühl, die Stadt habe möglicherweise doch auch Grenzen, weil man in China diesen Grenzen am nächsten gekommen ist.
Das Land muss sich verändern oder hat sich schon wegen dieses Urbanitätsschubs zwangsläufig verändert. Die Veränderungen sind so dramatisch, dass man sie nicht mehr unkommentiert lassen kann. Ausgehend von dem alten Bestand müssen wir nun dieses zum Teil landwirtschaftliche Gewebe, diesen löchrig gewordenen Körper transformieren. Man kann nur hoffen, dass diese Leuchtturmprojekte, die jetzt architektonisch entstehen und so viel Aufmerksamkeit generieren, durch die Bemühungen von verschiedensten Seiten tatsächlich die Frage aufwerfen und verschärfen: Was wäre der ländliche Raum im 21. Jahrhundert? Hier hinkt Europa China konzeptionell hinterher und könnte viel von China lernen, weil europäische Länder strukturell ganz ähnliche Probleme mit dem ländlichen Raum haben, aber lange noch nicht an diesem Punkt sind, sich wirklich darauf einzulassen, diesen Raum neu zu denken. In der Schweiz zum Beispiel ist man eigentlich immer noch damit beschäftigt, das heile Bild des Dorfes von vor fünfzig Jahren zu restaurieren und mit einer Art Heimatschutzkosmetik am Leben zu halten, anstatt zu sagen, das alte Dorf ist tot, weil die Ökonomie des alten Dorfs tot ist. Wir müssen eine völlig neue Ökonomie bilden, die eine Basis schafft für die Menschen, die dort gerne leben wollen.
Während in China der Trend zur Rückkehr in die Dörfer bereits spürbar ist[1], gibt es in Deutschland die Tendenz, dass die Kleinstadt wieder populär wird, also Städte wie Bernau oder Eberswalde bei Berlin. Da gibt es einen Bedarf, diese festgelegten Definitionen zu hinterfragen: Was ist eine Großstadt, eine Metropole, was ist ein Dorf, was ist eine Kleinstadt? Das müssen wir alles neu definieren. Genau deswegen ist „The Songyang Story“ spannend. In so einem Ad-Hoc-Architektur-Experimental-Ansatz bedeutet Architektur nicht nur schöne Häuser, sondern wird als eine Art Katalysator einer Entwicklung nutzt, die einen zwingt, viele banale Fragen zu beantworten: Wie kommen die Leute hierhin? Wie kommen sie wieder weg? Wie verdienen sie ihr Geld? Womit verdienen sie ihr Geld? Wer kann diese Ökonomie befüttern, die man braucht, um das zu machen? Hier hat man erstmal nur ein Steinchen ins Wasser geworfen, aber schon ist man drin in Themen wie neue Arbeit in digitaler Zeit, neue Formen des Tourismus, zeitgenössische und nachhaltige Form der landwirtschaftlichen Produktion, neue Konzepte des Denkmalschutzes – was bedeutet das heute? –, neue Konzepte des Zusammenlebens, die Frage von Individuum und Kollektiv. Alle diese Fragen stellen sich gleichzeitig. Insofern ist das eigentlich eine Art Utopie-Labor, ausgehend von einer ext-rem pragmatischen Fragestellung. Und das habe ich nicht erwartet, deswegen finde ich es sehr spannend hier in Songyang.
ZZ: Erhard An-He, wie siehst Du das als praktizierender Architekt?
EAK: Da würde ich zustimmen. Aber ist es nicht immer so, dass man in einem Architekturprojekt all diese Dinge letztlich mitdenken muss? Manchmal treten die Zusammenhänge natürlich offensichtlicher zu Tage oder sind viel mehr einem Veränderungszwang unterworfen, aber letzten Endes hat man als Architekt eigentlich immer diese ganze Palette von Einflussgrößen, die man mit seiner Planung anstößt und dann auch mit verantworten muss.
AR: Konzeptionell, ja, das würde ich auch sagen, aber interessant ist hier, dass es von der Reichweite des Projektes auch möglich ist, das alles zu bearbeiten. Ich habe XU Tiantian gefragt, wie das alles angefangen hat. Und sie hat gesagt, der Anfang war, als WANG vor etwa sechs Jahren hier Parteisekretär wurde und merkte, dass mit dem ländlichen Raum etwas nicht stimmt. Sein Konzept war eigentlich, dass man Touristen hierher holt, zum Beispiel durch Angebote von homestay und airbnb. Es war dann XU Tiantian, die gesagt hat, es werde nicht ausreichen, Unterbringungsmöglichkeiten zu erzeugen, sondern man müsse ein neues Narrativ für den ländlichen Raum schaffen, und man solle Angebote für den städtischen Touristen machen. Denn dieser Tourist sei von einem bestimmten Konzept von Urlaub konditioniert. Sie hat dann den Impuls gewagt, in Songyang kulturelle Sehenswürdigkeiten zu schaffen und der Parteisekretär hat daraufhin seine ursprüngliche Aufgabenstellung aufgegeben. Die Architektin nahm die Aufgabe an und versuchte sie zu lösen. Dabei kam sie zu dem Entschluss, dass die Aufgabe erweitert werden müsse und spiegelte das Konzept zurück an den Auftraggeber, der bereit war, das in seine Aufgabenstellung einzufügen. Ein dialogischer Prozess. Das ist ein relevanter Aspekt, wo wir doch immer glauben, dass alles so Top-Down in China organisiert ist. Tatsächlich ist die Planungskultur, wie sie in diesem konkreten Fall praktiziert wurde, dialogischer als alles, was in demselben Bereich in unseren Breiten passiert.
KY: Was bedeutet in solch einer Planungskultur ein Vertrag zwischen den beiden Parteien?
EK: Er ist nur eine Absichtserklärung für einen gemeinsamen Weg. Man muss sich darauf einlassen, mit dem Investor oder dem Auftraggeber zusammen zu arbeiten. Was später rauskommt, ist vielleicht etwas ganz anderes als das, mit dem man angefangen hat. Ob man bei solch einer risikobehafteten Situation genug Vertrauen haben kann oder haben soll, und ob man für seine Bereitschaft entsprechend belohnt wird, sind offene Fragen.
AR: Das ist eine Kultur, in der das wichtigste Risiko-Kapital Vertrauen ist.
EAK: Der Architekt in China ist sehr viel stärker als bei uns in die Definition eines Raumprogrammes involviert, weil weder der Nutzer noch der Bauherr in den meisten Fällen so genau wissen, was sie möchten. Es ist eben nicht so, dass das Raum- und Funktionsprogramm klar definiert ist und bloß vom Architekten räumlich umgesetzt werden muss. Vielmehr ist die Planung ein Prozess, in dem Bauherrenschaft und Planerschaft gemeinsam nicht nur das Raumprogramm entwickeln, sondern im Grunde erst die Aufgabe definieren; und das ist natürlich oftmals schmerzvoll, aber es hat auch ganz viele Potenziale.
AR: Für Architektur ist das großartig, finde ich. Weil es hier eine Funktion gibt, die nicht nur programmatischer Natur ist, sondern eben auch formgebender Natur.
Ein anderer Punkt, der mir nicht bewusst war, ist, wie pragmatisch und opportunistisch Möglichkeiten generiert werden. Alle Projekte starten klein, und jeder Schritt, der zeigt, dass da doch eine gute Sache damit entstehen kann, erzeugt mehr Vertrauen und bringt mehr Geld, weil man unterschiedlichste Institutionen oder politische Körperschaften überzeugen kann, Geld zu investieren. Das ist eigentlich ein performatives Fundraising während des Prozesses, in dem man ein Projekt macht. Und da gibt es dann scheinbar wirklich eine Kultur, die auch bereit ist, in so einen offenen Prozess einzusteigen, und zu sagen: ja, das finden wir gut, da machen wir mit.
Ich glaube, Songyang ist eine Sternstunde der verschiedensten Konstellationen von Politik, Wirtschaft, Architektur, und der Bevölkerungssituation; es ist wichtig, die ganze Bautätigkeit hier in Echtzeit zu begleiten und als Case Study der Planungstheorie zu dokumentieren. Solch ein Planungsprozess wird nicht ewig so weiter gehen, und er wird auch nicht so schnell wiederkommen. Deswegen ist auch die Konferenz so wichtig, da sie historisch die Wichtigkeit dieses Momentes validiert, und hoffentlich auch den Prozess der Dokumentation dieses ganzen Vorgangs mit stimulieren wird. Und wir merken: Es gibt ein „Learning from“, das wir hier adaptieren müssen. Ich habe von Dir gehört, Eduard, dass das ganze Konzept des „Learning from“, das wir eigentlich mit Venturi und „Learning from Las Vegas“ verbinden, eigentlich aus China kommt. Die haben angefangen…
EK: Der Slogan – Learning from Dazhai, learning from Daqing … Das ist die unglaubliche Voraussetzung in China: Jede/r will lernen! Sie/er WILL lernen! Und das ist ja bei uns nicht immer so. Sondern bei uns weiß man ja schon alles!
[alle lachen]
Das Gespräch fand am letzten Abend des Symposiums “Rural Moves – The Songyang Story“ am 10. November 2018 in einem separaten Gebäude – durch das Hotelfoyer am Aufzugsbereich vorbei und weiter einem langen Flur folgend, einen Hinterhof überquerend – im Gymnastikraum des Konferenzhotel-Komplexes Xintiandi in Songyang statt. Im gleichen Raum standen noch Pingpong-Tische, Billard-Tische und Fitness-Geräte.
Transkribiert durch ZHANG Zhen und Peter Schön.
[1] Quelle