Die Städte in China befinden sich in einer Phase der Transformation. Das Schema lautet Abriss und Neubau. Auch Xi’an bildet da keine Ausnahme. Zwar wurden mehrere touristische Viertel im Baustil der Tang-Dynastie errichtet, die großzügig angelegt, aber inhaltsleer sind. Es ist nachvollziehbar, dass man versucht, die goldene Zeit der Song- bzw. Tang-Dynastie in Xi’an heraufzubeschwören, aber Xi’an ausschließlich als eine ehemalige Kaiserstadt anzusehen, ist eindeutig ein falsches Konzept.Imperialer Glanz ist nicht das, was die Stadt heute im Kern ausmacht, das entspricht weder dem Charakter noch der Atmosphäre der Stadt. Es gibt heute überhaupt keine originalen Gebäude aus der Tang- Dynastie mehr und die unzähligen Kaisergräber in der Umgebung haben mit dem Leben in der Stadt nichts zu tun. Meiner Meinung nach besitzt Xi’an allerdings gewisse Charakteristika und Werte, die bisher vernachlässigt wurden – zum Beispiel die vielfältige Straßenkultur. Denn die Stadt liegt im Landesinneren und grenzt gleichzeitig an die Randgebiete Chinas, was einen vitalen, boden- ständigen und äußerst säkularen Lebensstil geprägt hat. Diese besondere Lebensweise war in der Altstadt lange Zeit erhalten geblieben, ähnlich wie die 1370 erbaute Stadtmauer. Die Stadtmauer von Xi’an ist ein Glücksfall, da sie nicht wie die in Peking in den 50er Jahren abgerissen wurde. Sie ist die am besten erhaltene Stadtmauer in China. Doch Szenen des traditionellen, entspannten Alltagslebens sieht man heute kaum noch. Die einst verzweigten und verwobenen Gassen sowie die früher herrschende zwischenmenschliche Wärme in den Nachbarschaften sind durch gigantische Abriss- und Bauprojekte verdrängt worden. Die negativen Veränderungen sind bedauerlicherweise irreversibel: Das Gedächtnis der Stadt ist durchtrennt und die traditionelle Lebensweise der früheren ist im Verschwinden begriffen. Die Folge ist eine urbane Malaise, eine Zunahme der zwischenmenschlichen Gleichgültigkeit.
Xi’an stellt einen Mikrokosmos der chinesischen Stadtentwicklung dar, hier herrscht ein Hochgeschwindigkeits- Urbanismus, der die kühnsten Vorstellungen und die größten Sorgen um verschwindenden Stadtlandschaften und verschwindende Stadtgeschichte noch übertrifft. Oft verändern sich die Dinge so rasant, dass kaum Zeit für das Erinnern bleibt. Vor 10 Jahren habe ich mit meinem Team von Bendi-Local die unabhängige Zeitschrift “Local” gegründet, um die Stadtentwicklung und die Veränderungen der Stadt aufzuzeichnen und zu archivieren. Derzeit konzentrieren wir uns auf die Auseinandersetzung mit der Straßenkultur und den Nachbarschaften in Xi’an und haben ein Buch über die “Hui Fang”, also Wohnquartiere der Hui-Nationalität in der Altstadt in Xi’an, herausgegeben. In diesem Fall wurde ein historisches Viertel als Forschungsgegenstand genommen und eine Studie dazu durchgeführt, in der die alte Architektur, die Raumaufteilung und Verkehrsstruktur, Lebensgewohnheiten, Sprache, kulinarische Besonderheiten bis hin zu typischen Verkehrsmitteln genau untersucht wurden.
Die Forschungsergebnisse geben in relativ hohem Maße die Lebensweise in diesem ausgesuchten Wohnquartier wider.
Mit der Zeitschrift “Local” wollen wir aber nicht nur beobachten, sondern auch an der urbanen Praxis teilhaben. In Xi’an mangelt es an öffentlichem, kulturellem Raum. Wir möchten uns dabei einbringen und mit der Publikation von “Local” dem Leben der Stadtbewohner, das im Fokus unseres Interesses steht, neue interessante Aspekte hinzufügen.