Was heisst eigentlich Stadtmachen “vor unserer eigenen Haustür”, im Kiez unseres Berliner-Büros in der Weißenseer Spitze? Unsere STADTMACHER-Kiezerkundung war ein voller Erfolg. 30 interessierte Mit-Erkundende, spannende Orte, Themen und Akteure, sowie ein mobiler STADTMACHER-Tee-Salon. Ein erster Prototyp für unsere geplanten CITYMAKERS-Walks ist entstanden! Tragt Euch in den Newsletter ein, wenn Ihr Lust habt, an unseren weiteren STADTMACHER-Erkundungen teilzunehmen. In Kürze laufen wir weiter!
Die Tiny House-Bewegung kommt, wie man aus der englischen Bezeichnung erraten kann, aus den USA. Einen „Hype“ soll die Veröffentlichung des Buches „The Not So Big House” der Architektin Sarah Susanka im Jahr 1998 ausgelöst haben. In Deutschland ist das Konzept noch relativ neu und nicht ganz unumstritten. Tiny Houses haben meist eine Wohnfläche von zehn bis maximal 15 Quadratmeter und kosten laut VICE circa 15,60 Euro pro Quadratmeter. Tchibo verkaufte 2018 drei Modelle ab 40.000 Euro. Sie sind zwar in der Regel mobil konzipiert, im Gegensatz zu Wohnwagen und Wohnmobil jedoch nicht zum Reisen sondern unter anderem zum Leben auf Parkplätzen für eine Nacht gedacht. Angesichts der steigenden Wohnungs- und Grundstückspreise in Großstädten und beliebten Regionen rücken die Investitionen den Traum vom selbstgebauten und selbst gestalteten „Eigenheim“ in greifbare Nähe sagen die einen, Kritikerinnen sehen in den Tiny Houses jedoch eine Kapitulation vor steigenden Mieten. Ballast abwerfen, Ressourcen sparen, sich wieder auf das Wichtige im Leben konzentrieren? Das sind ambivalente Motive, die im Zusammenhang mit Tiny Houses immer wieder genannt werden. In Berlin gibt es verschiedene Initiativen, zum Beispiel ein „Tiny House Festival“ im Juli 2018 vor der Urania, welches aus dem 2015 gegründeten Kollektiv „Tinyhouse University“ entstand, und ein Tiny House „Musterdorf“ auf dem IKEA Parkplatz in Lichtenberg. Wer hätte gedacht, dass auch Weißensee so eine kleine Gruppe von Tiny House-Fans aufweist? Und dann auch noch im Schatten einer Kirchenruine auf einer Verkehrsinsel? Wer sind die jungen Leute, die hier bauen, leben und Veranstaltungen organisieren? Was bewegt sie, was können wir von ihnen lernen?
Kika Yang und Maja Linnemann von STADTMACHER China – Deutschland sprachen mit den Erbauer*innen und Bewohner*innen der Tiny Houses am Mirbachplatz über ihren Traum von nachhaltigem Bauen, Autarkie und Gemeinschaft.
Der Ort
Seit Ende 2018/Anfang 2019 stehen auf dem Mirbachplatz – einem von hohen Bäumen und Büschen umsäumten Kreisverkehr mit dem Kirchturm der im 2. Weltkrieg zerstörten Bethanienkirche – mehrere Tiny Houses.
Das Grundstück mitsamt dem denkmalgeschützten Kirchturm ist seit 2007 in Privatbesitz. Der Hauptteil der Kirche wurde 1945 zerstört und 1955 abgerissen. Auf den Kirchturm kann man aber heute noch steigen, und die Glocken läuten samstags und sonntags.
Der jetzige Eigentümer, der Architekt Bernd Bötzel, plant, den Platz mit Eigentumswohnungen zu bebauen, aber der Planungs- und Genehmigungsprozess ist noch nicht abgeschlossen.
Seit 2007 fanden auf dem Platz immer wieder Veranstaltungen statt, wie zum Beispiel Public Viewing und als Ort einer Kunstperformance beim Art Spin Berlin 2018. Allerdings wurde auch immer wieder das Gelände betreten und in die Kirche eingebrochen. Der Platz wird auch von einer Eisdiele genutzt, die dort Tische und Stühle für ihre Kundschaft stehen hat.
Die Menschen
Pia Grüter, 33 Jahre, hatte den Platz 2018 beim Art Spin Berlin entdeckt, einer kollektiven Fahrradtour zu kreativen Orten, die 2018 durch den Wedding, Pankow und Weißensee führte. Der Garten am Mirbachplatz mit dem Bethanien Kirchturm hatte ihr sofort gut gefallen. Damals hatte sie schon ein Tiny House, das beim Holzmarkt stand, der als Standort aus verschiedenen Gründen nicht ideal war. Sie kontaktierte den Eigentümer des Mirbachplatzes, der sich für die Idee einer Zwischennutzung sehr offen zeigte. Sie war also die erste, die im Oktober 2018 ihr Haus fertig stellte. Pia ist Künstlerin und hat durch ihr Studium und ihre künstlerische Praxis bereits mit vielen Materialien gearbeitet. Sie lebt mit ihrem Partner und Hund in einer Wohnung in Berlin, das Tiny House versteht sie als Projektraum.
Katharina Hohaus, 27 Jahre, war die zweite Bewohnerin am Mirbachplatz. Sie brachte ihr fast fertiges Tiny House mit. Katharina studiert europäische Ethnologie und schreibt in ihrer Bachelorarbeit über die aktuelle Nutzung des Mirbachplatzes und das Potential des Projektes, Anregungen für eine Postwachstumsgesellschaft zu liefern. Dafür sammelt sie Zeichnungen und will verschiedene Perspektiven von den Anwohnenden und den umliegenden Geschäften untersuchen.
Kornelius Maurath, 24, ist Landschaftsgärtner. Mit seiner Freundin, einer Grafikdesignerin, kam er im Februar zum Mirbachplatz und begann, ein Tiny House neu zu bauen. Kornelius lebt seit zwei Jahren in Neukölln und empfindet den Kontrast zu Weißensee besonders, einem Stadtteil, den er zuvor kaum wahrgenommen hatte. Beruflich baut Kornelius Pflanzenkläranlagen in großem Maßstab. Mitte Juli hatte er eine Kläranlage für das Tiny House-Projekt fertiggestellt, und so einen Wasserkreislauf hergestellt. So wird benutztes Wasser geklärt und wieder verwendet, zum Beispiel zum Hände waschen und Blumen gießen.
Max Warkentin, 38 Jahre, hat zuvor mit Katharina an ihrem Tiny House gebaut und baut nun auf dem Mirbachplatz ein Gemeinschafts- und Veranstaltungshaus.
Die Häuser
Pias Haus war ehemals ein Pferdetransporter, was man heute noch an der Form erkennt. Den Aufbau hat Pia komplett erneuert, innen wirkt es mit Kochgelegenheit, einer Trockentrenntoilette, Regalsystem, Hochbett, Arbeitsplatz und einer kleinen „Veranda“ sehr fertig und gemütlich. Pia hat etwa 7500 Euro investiert, wobei sie einiges geschenkt und gesponsert bekommen hat, wie die Seegras, dass die Wände dämmt, die Treppenstufen außen und einen Teil der Inneneinrichtung. Unterstützung kam unter anderem von BAUFACHFRAU e.V., die ebenfalls in Weißensee ihren Sitz haben, dem Zentrum für Kunst und Urbanistik in Berlin Moabit, und vielen anderen.
Ihr Tiny House hat sie als eigenen unabhängigen und selbstbestimmten Ort konstruiert, den sie zum Beispiel auch als Artist In Residence Programm anderen Künstlern zur Verfügung stellt. Sie will damit ihre eigene kulturelle Plattform schaffen, die sie unterschiedlich nutzen und mobilisieren kann. Das Tiny House bietet das auf flexible und unkomplizierte Art und ohne große Kosten. 2019 hat hier bereits ein amerikanisches Paar zehn Tage lang gelebt und gearbeitet, und im August kommt die finnische Künstlerin Emilia Ukkonen. Darüber hinaus haben schon viele Freunde und Interessierte das temporäre Wohnen auf kleinem Raum in Pia’s Haus getestet.
Katharinas Haus war schon fast fertig, als sie im Dezember 2018 auf den Mirbachplatz zog. Sie hatte im Sommer 2018 angefangen daran zu bauen. Es besteht zu 80 % aus recyceltem Material, und ist ein Projekt des Ausprobierens. „Wenn man alles selber macht, ist das Ergebnis leider nicht perfekt“, sagt Katharina. „Und man muss sich nach dem Material richten, wenn es nur „ungefähr“ ist, ist eben das Ergebnis auch nur ungefähr. Aber es funktioniert trotzdem.“
Kornelius und Kerstin: Die Wunderkiste
Das Haus ist noch „im Werden“. Auf dem Hochbett kann man schon schlafen, aber der untere Bereich wird noch als Werkstatt benutzt. Kornelius: „Wir wollten uns etwas Eigenes und Autarkes schaffen, das wir uns leisten können, und dabei mit verschiedenen Rohstoffen experimentieren. Und soweit möglich, nur natürliche Materialien nutzen. Kein Plastik, nur Holz. Wir haben Solarpanels, die noch installiert werden. Ein Kamin ist auch geplant. Wir haben das Haus höher gebaut, als man es auf der Straße transportieren dürfte, aber man kann den oberen Teil einklappen. (Für den Straßentransport wäre man auf 2,50 Meter Breite und 4 Meter Höhe beschränkt.) Wir beide lieben Holz, wobei wir beruflich nicht damit arbeiten.“
Kornelius und Kerstin haben vor Baubeginn Pläne gezeichnet und mit Fachleuten – einem Zimmermannsmeister und einem Statiker – gesprochen. Das Haus ist als Hauptwohnsitz geplant. Als Kosten für das Ganze sind ca. 12.000 Euro angedacht.
Max’ Haus ist ein Upcycling Projekt. Es soll ein Gemeinschaftshaus werden, das verschiedene Funktionen haben kann. Die Fassade besteht aus Türen, die ausgeklappt oder abgenommen werden und als Tische dienen können. Wenn die Türen aufgeklappt sind, kann man das Haus zum Beispiel als Bühne nutzen. Das gesamte Material ist zum größten Teil recycelt, Max hat kaum etwas hinzu gekauft: „Ich wollte einfach mal was auspro-bieren mit dem Haus, es sollte eine Art Pop-up Shop werden, könnte aber auch ein Foodtruck sein. Man könnte zu jedem Teil darin eine Geschichte erzählen.“ Besonders ist das siebeneckige Dach, das, wenn es gut funktioniert, eine Regenrinne überflüssig macht, und das Raumgefühl verbessert. Da die Fassade aus Türen besteht und nicht isoliert ist, ist das Haus wahrscheinlich nicht für den Winter geeignet.
Infrastruktur
Strom gab es von Anfang an über die Kirchengemeinde. Der Rest der Infrastruktur ist nach und nach entstanden. Jetzt gibt es eine Wertstofftonne, die abgeholt wird, einen Kompost und eine Komposttoilette, deren Inhalte regelmäßig von einer darauf spezialisierten Firma abgeholt und entsorgt werden.
Im Juli 2019 fertig geworden ist eine Pflanzenkläranlage. Durch die Kläranlage und das Sammeln von Regenwasser sind sie bis auf Trinkwasser nun autark.
Aktivitäten
Die Bewohnenden waren sich einig, dass sie den Platz nicht nur für sich nutzen, sondern auch für Anwohnende öffnen und einen Ort für das nachbarschaftliche Miteinander, kulturellen Austausch, verschiedene Workshops und Events schaffen wollten. So gibt es regelmäßig etwa einmal im Monat einen Tag der offenen Tür, an dem sie auch Essen und Trinken anbieten. Die Reaktionen sind sehr positiv, manche Anwohner*innen kommen und erzählen von ihren Erinnerungen an den Platz und an die Kirche. „Am Anfang haben wir Ideen von den Anwohnern gesammelt“, sagt Katharina, „was man hier alles machen könnte. Es gab sehr viele Ideen, von regelmäßigen Kino-Vorführungen über Urban Gardening und Repair Cafés. Beim Urban Gardening hatten wir Hilfe von Studierenden, die die Beete gebaut haben und auch noch ein Theaterstück aufgeführt haben.“
„Wir haben auch überlegt, was man machen kann, damit die Kundschaft der Eisdiele nicht nur reinkommt, ihr Eis isst und gleich wieder geht“, erzählt Kornelius. „Deshalb haben wir ein Spieleregal, einen Bücherschrank und einen Kleidertausch eingerichtet.“
„Ich hatte es gar nicht auf dem Schirm. Aber es ist schön, so einen Kiez zu entdecken, in dem viele Menschen sagen „Ich habe immer hier gelebt.“
Über Weißensee
Kornelius: „Ich hatte es gar nicht auf dem Schirm. Aber es ist schön, so einen Kiez zu entdecken, in dem viele Menschen sagen „Ich habe immer hier gelebt.“ Alles ist etwas kleiner und ruhiger als in Neukölln, wo ich seit zwei Jahren lebe. Es ist fast als wäre es nicht mehr Berlin.“
Pia: „Ich empfinde es etwas anders: Seit ich mich hier auskenne, ist es für mich ein untrennbarer Teil Berlins. Ich war überrascht, was sich hier alles versteckt. In jedem zweiten Hof gibt es eine Werkstatt, einen Bühnenbildner, irgendwas für Theater, hier wird überall produziert. Hier steht auch die Rakete vom Chaos Computer Club, und BAUFACHFRAU e.V. sitzen hier, die über das Zentrum für Kunst und Urbanistik viel für uns gemacht haben, zum Beispiel das Tauschregal.
Zukunft
Die Zwischennutzungsverträge laufen nur über ein Jahr. Wahrscheinlich müssen die Tiny Houses im Herbst 2019 weiterziehen. „Man kann sagen, dass sich jetzt nach einem halben Jahr langsam alles etabliert hat“, sagt Max. „Idealerweise hätten wir einen Vertrag über zwei, drei Jahre, dann könnten wir uns ganz anders auf den Platz einlassen.“
Im Juli 2019 kam unerwartet der Bezirksbürgermeister zu Besuch, um das Projekt kennenzulernen.
„Jetzt diskutieren wir, wie wir das Projekt weiter entwickeln können und wollen“, sagt Pia. „Falls der Bezirk uns einen anderen Standort anbieten könnte, was könnten wir dann bieten? Ideen gibt es ja genug, aber da wir alle arbeiten, haben wir nur begrenzt Zeit, uns darum zu kümmern. Optimal wäre es, wenn es eine Projektförderung gäbe, mit der wir eventuell sogar ein oder zwei Teilzeitstellen finanzieren könnten.“
Der Artikel entstand nach einem Besuch von Kika Yang und Maja Linnemann bei den „Insulanern“ am Mirbachplatz am 16. Juli 2019.