Was bewegt Dich zwischen China und Deutschland derzeit am meisten?

Published October 2018
Location Berlin
© JIANG Feipeng

Zum Auftakt des dritten STADTMACHER-Jahres traf sich Katja Hellkötter mit dem in Berlin lebenden Journalisten und Autor SHI Ming, der seit ein paar Jahren chinesisch-deutsche Kooperationen zwischen Städten und zu Themen der Urbanisierung konsultierend begleitet und verfolgt. Bei einem ausgedehnten Mittagessen im Restaurant Peking in Berlin wurde über die Themen diskutiert, die seiner Ansicht nach im deutsch-chinesischen Austausch wichtig sind oder sein sollten, wie Anti-Urbanisierung, Ressourcenverteilung und multizentrale Landentwicklung, Stadtidentität(en) und vieles mehr.

Was bewegt Dich derzeit in Bezug auf deutsch-chinesische Kooperationen?

Da in China, insbesondere in chinesischen Städten, die westliche Modernisierung mit einem atemberaubenden Tempo voranschreitet, bietet sich sowohl eine noch nie dagewesene Möglichkeit wie auch eine beispiellose Notwendigkeit, dass beide Seiten über alles sprechen, was eine solche Urbanisierung mit sich bringt. Die Kooperationen können für mich nur dann gedeihen, wenn gemeinsame Prozesse in ihrer Vergleichbarkeit wie auch in ihren Unterschieden tiefer und umfassender verstanden werden.

Etwa, dass Deutschland im 19. Jahrhundert aufgrund spezifischer Gegebenheiten eine Landflucht erlebt hatte, von der wenige Jahrzehnte später wieder eine große „Gegenbewegung“ ausging, so dass übergroße Städte und Ballungszentren mit purem städtischem Charakter nicht haben entstehen können. Nicht einmal das Ruhrgebiet, damals klar als eine städtisch-industrielle Großregion identifiziert, konnte eine Dimension erreichen wie etwa London oder Paris. Zur jener Zeit mag dies von vielen Zeitgenossen als „deutsche Bäuerlichkeit“ belächelt worden sein. Doch im Rückblick können heutige chinesische Städte Deutschland darum beneiden: Weder eine Überbevölkerung auf engstem Raum noch ein Ungleichgewicht zwischen großen Regionen sind als negative Folgen dieser Modernisierung auszubalancieren.

Und wie war der Prozess in China?

Blicken wir auf den Prozess der chinesischen Verstädterung der 1980er Jahre zurück, stellen wir fest, dass ähnliche Gedanken auch dort vorgeherrscht hatten: Bauern sollten möglichst nahe ihrer eigentlichen Heimat gehalten werden, Industrialisierung und Urbanisierung wurden nicht als unbedingter Kult des Fortschritts gefeiert, sondern dialektisch behandelt. Diese Grundsätze waren – repräsentiert durch den berühmten Soziologen FEI Xiaotong – Kern einer Modernisierungsstrategie dezentraler, daher auch multizentraler Landentwicklung. Vermeidung übergroßer Bevölkerungswanderungen, gleichmäßige Verteilung von Ressourcen auf verschiedene Regionen Chinas und nicht zuletzt auch eine Vielfalt der Entwicklungswege zu ermöglichen, dies waren Charakteristika einer Strategie, die, da bin ich mir gewiss, auch die „deutsche“ Erfahrung mit einbezogen hatte.

Das Stichwort „Verteilung der Ressourcen” scheint mir wichtig. Ist das nicht genau eines der Probleme jetzt, das die Ressourcen nicht gleich, sondern ungleich verteilt sind? Welche Strategie erkennst Du?

Genau. Wir sehen nun eine andere, fast konträre Strategie: Städtegruppen konzentrieren sich mehr und mehr auf drei Regionen: Das Perlflussdelta, das Yangtse-Delta und eine Dreiecksregion an der Bohai-Bucht. Das, was man am Anfang der chinesischen Reformpolitik hätte vermeiden wollen und können, ist eine bedrohliche Realität geworden: Die Konzentration nahezu aller Ressourcen, einschließlich Humanressourcen, macht eine gleichmäßige, ausgewogene Regionalentwicklung schier unmöglich.

Diese und weitere historische und zeitgenössische Entwicklungen und Dynamiken, um im Bilde der westlichen Modernisierung zu bleiben, liefern China wie Deutschland eine Reflektionsfläche, die ihre Parallele sucht. Gute und schlechte Erfahrungen aufgrund dieser vergleichbaren, und dennoch in Details so unterschiedlichen Prozesse stehen beiden Ländern zur Verfügung, um über die Zukunft einer sich derart modernisierenden Welt, mit unseren beiden Ländern als wichtige Spieler darin, gemeinsam nachzudenken. Ich glaube, dass wir noch eine ganze Menge zu tun haben. Und ich bin fest davon überzeugt, dass unsere tiefe und gemeinsame Reflektion über unsere beiden Länder und deren Modernisierungsprozesse uns neue Ansatzpunkte liefern werden, die genauso einmalig sein werden.

Der Gedanke gefällt mir, sucht doch auch das STADTMACHER-Programm – jenseits und trotz aller auch vorhandenen oftmals systembedingten Grenzen – vor allem die Spiel- und Möglichkeitsräume unseres gemeinsamen globalen Lernens zwischen China und Deutschland. Und der „Nährboden”oder „Reflektionsfläche” wie Du es nennst, ist die Chance, denn nur darauf kann Gemeinsames „wachsen”.

Ohne euphorisch und deshalb ein wenig aufpeitschend zu klingen: Ich finde so schnell keine zwei Länder, die eine so reiche und vielschichtige historische wie zeitgenössische Reflektionsfläche zur Verfügung haben. Sie nicht zu nutzen, wäre nicht nur eine pure Ressourcenverschwendung, es wäre auch eine unverantwortliche Art, mit unseren Kooperationen umzugehen: Es kann nicht angehen, dass der eine nur Probleme hat, während der andere nur darauf wartet, Lösungen zu liefern.

Das ist ein wichtiger Hinweis. In der Tat ist das Muster unserer Begegnung mit China schon längst keine Einbahnstraße mehr. Es muss ein Paradigmenwechsel stattfinden: Vom Export von Expertise zum miteinander Lernen und gemeinsamen Handeln.

Lass uns noch einmal auf die auch oft als Megatrend bezeichnete Entwicklung der Urbanisierung zu sprechen kommen. Du hast kürzlich den Begriff der „Anti-Urbanisierung“ eingebracht. Kannst Du Deine Beobachtungen erläutern?

„Anti-Urbanisierung“, auf Chinesisch 逆城镇化 (ni chengzhenhua), wurde als Begriff Anfang 2018 geprägt, auch wenn sich schon einige Jahre zuvor erste Ansätze dazu in der chinesischen Politik bemerkbar machten. In der Hauptstadt Beijing etwa, die aus allen Nähten zu platzen drohte, gab es bereits den Plan, einen Teil der städtischen Struktur woanders hin zu verlagern, um diese Stadt von sich selbst zu befreien.

Die Rede war zuerst davon, eine „Neben-Hauptstadt“ (副都) im Vorort Tongzhou, östlich von Beijing, einzurichten, mit der städtischen Verwaltung der Stadt Beijing, während die Zentralregierung für ganz China weiterhin im Stadtzentrum bleiben sollte. 2016 wurde dann der Plan aus der Taufe gehoben, südlich von Beijing die Sonderzone Xiong‘an einzurichten, ebenfalls mit dem Ziel, den Urbanisierungsdruck der Hauptstadt zu lindern. Dorthin, so der Plan, sollten durchaus reine städtische Funktionen wie etwa Universitätsviertel oder Science-Parks, verlagert werden.

Bis Anfang 2018 allerdings beschäftigten sich die Planer und Entscheider in China vor allem damit, Super-Cities zu entflechten, zuerst vor allem dadurch, „Neben-Städte“ oder „Neben-Zentren“ einzurichten, die durchaus selbst auch städtisch bleiben sollten. Als aus ähnlichem Druck die Stadtregierung Beijings Zwangsmaßnahmen angeordnet hatte, um die so genannte „low-end-population“ (z. B. WanderarbeiterInnen, die nach Beijing kommen, um städtische Chancen durch Dienstleistungsjobs für sich zu nutzen) per Dekret der Verwaltung wieder aufs Land zurückzubringen, da begann auch die Diskussion unter dem Stichwort „ni-chengzhenhua“, also Anti-Urbanisierung.

Was  ist unter Anti-Urbanisierung zu verstehen?

Gemeint ist de facto, da de jure bislang noch keine politische Richtlinie verabschiedet worden ist, der Prozess, dass eben nicht alle, die bislang ländlich leben, um jeden Preis in die Städte ziehen sollten, was mehr oder minder Kern des ersten Urbanisierungsprogramms 2013 war. Es ist überdies auch zu beobachten, dass nicht allein Städte wie Beijing und Shanghai sich langsam Gedanken machen, welche „Humanressourcen“ sie brauchen und deshalb bewusst politisch anwerben, während andere mit erhöhten Schwellen, die Einwanderung draußen vor der Tür gehalten werden sollen. 2014 berichteten offizielle chinesische Medien von 25 Städten, alle so genannte 1. und 2. tier cities, die solche Richtlinien und Kriterien entweder seit Jahren praktizieren, um diese personelle Selektion voranzutreiben, oder die intensiv daran arbeiten, solche Richtlinien zu verabschieden.

Mittlerweile redet man bereits von einer „Schlacht um Personen“ unter allen Städten, die nun langsam ahnen, dass das so genannte „Hukou-System“, welches das erste Urbanisierungsprogramm 2013 abschaffen wollte, ihnen nützlich sein könnte.

Immer mehr chinesische Städte verschärfen genau dieses System, indem sie ihre Einwanderungskriterien verschärfen. Die Kehrseite dieser Bewegung bildet sodann den zweiten Inhalt der Diskussion über Anti-Urbanisierung: Also welche Personen, auch wenn niemand dies ausspricht, sind „weniger willkommen“, in die Städte zu kommen. Und: Welche Personen sollen dazu bewegt werden, wieder zurück aufs Land zu gehen und wie…

Ein dritter Aspekt der Diskussion ist das Phänomen, dass reiche Städter ihrerseits sich immer mehr wünschen, nicht mehr in überbevölkerten und deshalb kaum noch freizügigen Großstädten leben zu müssen. So wurde bereits 2011 angeregt, auch auf dem Lande ein „Hukou-System“ einzuführen – unter der Fragestellung, welche (städtischen) Personen berechtigt seien, als Privatpersonen Grundstücke auf dem Lande zu erwerben, um dort leben zu können. Diese Diskussion belebt sich jetzt unter anderen Stichworten.

Unter dem sehr bedrückenden Eindruck, den der Handelskrieg zwischen China und den USA aktuell auf alle macht, wird die Wichtigkeit der Landwirtschaft und somit des ländlichen Raumes auch von den Spitzen der Politik wieder entdeckt. Eine Entvölkerung dieses Raumes wäre fatal für Länder wie China, die es sich aus geopolitischen Gründen nicht leisten können, in der Grundversorgung mit Lebensmitteln abhängig vom Ausland – ein anderes, viel euphemistischeres Wort wäre der „Weltmarkt“ – zu sein.

Da diese Diskussion sowohl städtische Gründe, sozio-ökonomische Hintergründe wie auch staatspolitische Überlegungen umfasst, ist zu erwarten, dass sie weitergehen wird.

Die Frage für Kooperationspartner wie Deutschland wäre dann, welche Aspekte sich anbieten, um einen gemeinsamen Dialog mit Erfolgschancen anzukurbeln.

Wir haben schon öfter miteinander über das Thema der Identitäten von Städten gesprochen und wie wichtig es ist, jenseits von technologischer Infrastruktur Alltagskulturen in den Blick zu nehmen. Was ist Dein Grundgedanke hierzu?

Für mich hängen Identitäten von Städten an der ihrer Bewohner und Bewohnerinnen, etwa wessen sie sich erinnern und mit welchen Gefühlen, oder was sie sich wünschen – jenseits allgemein menschlicher Begierden.

In beiderlei Hinsicht erleben Chinas und Deutschlands Städte vergleichbare Defizite: Auf der einen Seite wird die Erinnerung der städtischen Bevölkerung immer weiter zurück gedrängt. An ihre Stelle tritt eine globale, sich immer mehr angleichende Populärkultur, verbreitet durch immer homogenere Strukturen wie durch Smartphone-Gebrauch geförderte „Twitter-Stile“, kurze, meist emotional nicht näher definierte und auch nicht definierbare Ausbrüche, zum Beispiel. Auf der anderen Seite gleichen sich auch die Hoffnungen und Ängste der Gruppen immer mehr an: Alle wollen Geld verdienen; alle haben Probleme mit den Finanzmärkten; alle sehnen sich nach einer „sicheren“, das heißt immerfort homogeneren Identitätsgruppe – wir Deutschen hier, ihr Chinesen dort.

Unterschiede tun sich genauso kund: Immer mehr Chinesen bewundern Deutschland nicht länger deshalb, weil hier viele moderne Hochhäuser emporragen. In dieser Hinsicht verlachen dieselben Chinesen Deutschland nachgerade als Entwicklungsland. Nein, heute bewundern Chinesen deutsche Städte deshalb, da sie sich deutlich voneinander unterscheiden – menschlich nachvollziehbar, lebensnah und einladend, um mannigfache Vergangenheit immer wieder ins Gedächtnis zu rufen.

Woran misst Du diese Erkenntnis?

Das zeigen mittlerweile nicht nur chinesische Tourismusstatistiken, sondern auch Fotocollagen im Social-Media: Die Hafenstadt Hamburg mit ihrem Rathaus der bürgerlichen Übermacht wird bewundert, in scharfem Kontrast zu München mit seinen fürstlichen Alleen, Schlössern, und in noch stärkerem Kontrast zu Berlin, wo politische Vergangenheit schier nahtlos in die Gegenwart hineinwächst. Als Bestätigung solcher Bewunderung liest man nicht selten bei beliebten Social-Media Plattformen Bedauern wie „nicht wie bei uns…“.

Sind solche Klagen relevant für politische Überlegungen?

Mag sein, dass junge Chinesen immer noch in der Mehrzahl am „amerikanischen Lebensplan“ hängen, um vom Tellerwäscher in die Ränge der Financiers hoch zu klettern. Und doch mehren sich in chinesischen Diskussionen über städtische, regionale Identitäten zunehmend unterschiedliche Zukunftsvisionen: „Wir hier in Yunnan mögen vielleicht nur ein Zehntel von dem verdienen was ihr dort in Shanghai verdient, aber aufgrund unserer einmaligen Luftqualität leben wir zehnmal so lange wie ihr.“ Oder: „Ist es nicht besser, in ‚meiner‘ 3. Tier City zu leben, wo sowohl Mietwohnungen als auch Gemüse und Obst noch bezahlbar sind, als in ‚deinem‘ Moloch“.

Inwiefern?

Indem Erinnerungen wieder stärker gebraucht werden, indem Gedanken der Menschen immer mehr in unterschiedliche Richtungen gehen, wenn es um Zukunft und deren Gestaltung geht, werden Identitätsfragen der heutigen chinesischen Städte zwar jetzt noch nicht so scharf gestellt wie in manchen deutschen Städten: Ossi-Wessi; Industrie oder Erholung. Doch bin ich überzeugt, dass sich StadtplanerInnen wie auch politische EntscheidungsträgerInnen nicht länger einer progressiven, aber alle Unterschiede nivellierenden Zukunft hingeben dürfen, um ihren Kontakt zu den so unterschiedlichen Gruppen der „städtischen Menschen“ heute nicht zu verlieren.

Bemerkbar macht sich dies, zum Beispiel heutzutage an einer kleinen chinesischen Diskussion darüber, inwieweit man, um Tourismus als Wirtschaftsfaktor der Städte zu fördern, beliebig Geschichten erfinden darf, ja muss; und inwieweit man sich nicht doch zu der authentischen Geschichte einer Stadt bekennen soll und darf. Ist Wuzhen in der Nähe von Shanghai deshalb eine lebenswerte Kleinstadt, weil sie nur allgemein das „südchinesische Wasserstädchen schlechthin“ repräsentiert, oder ist sie attraktiv, weil sie echt ist (oder wenigstens so wirkt)?

Was ist Deine These zur Identität der Stadt?

Eine meiner Thesen zur städtischen Identitätsfrage in China besteht darin, dass Städte, die den Menschen keine eigenen, echten, in vielerlei Hinsicht ambivalenten Erinnerungen erlauben, oder sie dazu ermutigen, Plätze sind, die man auch ohne jegliche Verbindlichkeit verlassen wird, sobald sich auch nur die leiseste, vermeintlich bessere Chance irgendwo anders auftut. Städte wie Ordos in Nordwestchina sind „gute“ Beispiele in diesem katastrophalen Wortsinn: Ordos wuchs „nur“ als „Kohle-Stadt“ (auch im Sinne des deutschen Slangs Kohle = Geld) und bietet keinerlei Reflektionsfläche für Erinnerungen, Lebensgeschichten und dergleichen. Sobald die ersten Zeichen einer möglichen Ressourcenerschöpfung auch nur am Horizont erschienen, entstand in Ordos auch eine der ersten und schlimmsten Geisterstädte des modernen Chinas – eine Betonwüste aus leeren, verwaisten Wohnungen. Abends, wenn das Dunkel fällt, herrscht dort eine seelenlose Leere, dass es einen gruselt…

SHI Ming ist Journalist, Berater und Publizist. Er wurde im Jahr 1957 geboren und arbeitet seit 1990 freischaffend in Deutschland mit Stationen in Köln, Freiburg und Berlin.

Kontakt
sming0212@gmail.com

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