Im Rahmen des CITYMAKERS Weißensee-Mappings entdeckten wir die “Baufachfrauen”: An ihrem Sitz in der Lehderstraße in Berlin Weißensee bilden die sie in einer Werkstatt Tischlerinnen aus und betreuen von hier aus zahlreiche Projekte in ganz Berlin.
Dass das Empfinden, was einen Kiez lebenswert macht, auch sehr individuelle Bezugspunkte haben kann, die vor dem Film der persönlichen Erinnerung und Assoziationen zu ganz anderen Orten und Erlebtem entstehen, zeigt dieser Kiez-Artikel von Katja Hellkötter, die seit 2015 in der Weißenseer Spitze lebt und arbeitet. Sie ist Gründerin der Agentur CONSTELLATIONS und Mit-Initiatorin von STADTMACHER China – Deutschland. Nicht nur kam der Impuls für dieses Thema der Ausgabe CITYMAKERS InterVIEWS und die Aktion der Kiezerkundung Ende August von Katja, die schon länger das Bedürfnis hatte, den internationalen, deutsch-chinesischen Dialog zur lebenswerten Stadt, für den sie konzeptionell und moderierend tätig ist, ganz konkret in ihrem eigenen Kiez zu „erden”, sondern sie hat sich für diese Ausgabe auch an ihre frischen ersten Eindrücke und Gedanken von vor vier Jahren im Kiez erinnert. Von Shanghai, der „Stadt über dem Meer”, an den Weißensee in Berlin
In dem Sommer, bevor wir nach 16 Jahren in Shanghai nach Berlin umzogen, fuhren wir mit dem Rad durch diverse Berliner Kieze, um herauszufinden, wo es uns wohl am besten gefallen würde. Am Ende der Erkundungen wusste ich gar nicht mehr, welcher Kiez es wohl sein sollte. Überall hatte ich Lebensqualität, Schönes und Spannendes gefunden. Am letzten Tag vor der Rückkehr nach Shanghai machten wir noch einen klassischen Ausflug ins „Strandbad Wannsee“. Da wurde mir plötzlich klar, dass ich in der Nähe eines Sees wohnen wollte, in dem ich täglich baden könnte. Wie großartig ist es doch, in einer Hauptstadt zu leben und Seen mit Badewasserqualität vor der Tür zu haben! Nach so vielen Jahren in der 25-Millionen-Metropole Shanghai schien es mir beinah wie ein traumhaft-unwirkliches Szenario, Urbanität und Natur so nah beieinander genießen zu können. Auch erinnerte ich mich an eine ungestillte Sehnsucht: Als ich 1999 für meinen ersten Job nach Shanghai zog, das ich damals nicht kannte, sah ich in der Bedeutung von Shanghai 上海 – wörtlich „über dem Meer“ – für mich als Wassermenschen ein gutes Omen. Die 16 Jahre in Shanghai wurden sehr gut: Ich konnte viele Träume verwirklichen und einzigartige Gestaltungschancen nutzen: Ich vertrat eine andere Stadt am Wasser in Shanghai offiziell: Hamburg; übte spannende Jobs im Bereich der Nachhaltigkeit aus; und es gab Freiraum und Mut für Selbstständigkeit und Lücken für kreative Angebote: Die 2010 von mir mitgegründete Plattform SHANGHAI-FLANEUR, ein Netzwerk von Historikern, Sinologen, Stadtplanern, Architekten, Grafikdesignern und anderen Experten, die kreative Stadterkundungen anbieten, ist bis heute aktiv. Nur der Traum von der Stadt am Meer, in der/die Einzelne das Meer auch physisch erleben oder ´erschwimmen´ kann, blieb ein Traum: die Küste ist 40 Kilometer vom Stadtzentrum entfernt und wird hauptsächlich industriell genutzt.
Ich begann, Wohnungen in Wannsee-Nähe zu recherchieren, aber es wurde schnell klar, dass die Wohnungen dort für uns zu teuer waren, und dass der Stadtteil auch nicht wirklich zu uns passte. Ein paar Tage später landete eine Wohnungsanzeige in Weißensee zufällig in meiner In box, einem Stadtbezirk, den ich ehrlich gesagt bis dato nicht auf dem Radar gehabt hatte. Es war wie ein „Bingo Gefühl“: WeißenSEE! Mein Traum vom Leben am See klappte auf die andere Seite in den Osten der Stadt um wie eine Buchseite. Ohne den Stadtteil überhaupt zu kennen, reichte mir zu dem Zeitpunkt die alleinige Tatsache, dass es dort einen See zum Schwimmen gab, sogar mit einem ausgewiesenen Strandbad. Kombiniert mit der Annahme, dass Wohn- und Gewerberaum im Osten Berlins günstiger sein würde als im Westen, wusste ich: Das ist mein Stadtteil.
Neuer Raum für neue Ideen
Man muss sich nur lange genug in eine Idee hineindenken, dann wird sie auch wahr – so lautet eine These des optimistischen Denkens. Ich fing an, von einem großen weißen Loft zu träumen, einem Raum, der das Neue symbolisierte, das ich hoffte, in Berlin zu entdecken und auch beruflich zu entwickeln. Viele Jahre hatte ich immer wieder Begegnungen gestaltet, Menschen kreativ über Grenzen hinweg zusammengebracht, dieses auch mit einem eigenen Raum verbunden zu tun, war ein kleiner Traum. Freunde hielten mich für verrückt: „Träum weiter, das gibt es nicht mehr in Berlin, das ist alles schon viel zu teuer.” Dann fanden wir via Internet wie eine Nadel im Heuhaufen noch aus Shanghai heraus genau das, was ich mir vorgestellt hatte: eine Etage in einer ehemaligen Möbelfabrik in der Langhansstraße 86. Mit in China erlernter gesteigerter Risikofreude mieteten wir die Räume ohne sie vorher persönlich gesehen zu haben. Der schöne Zufall, dass die Hausnummer 86 gleichzeitig auch in der Postleitzahl des Stadtteils 13086 auftaucht und 0086 die Vorwahl von China ist, war das I-Tüpfelchen, das die Entscheidung für diesen Ort und Kiez schicksalshaft besiegelte.
Mittlerweile haben wir den Raum, der zuvor als Tanzstudio genutzt wurde, C*SPACE genannt, wobei C* für Vieles steht, von Culture und insbesondere Cross Culture über Creativity, Curiosity, Co-operation, Co-working, Community, Courage, CITYMAKERS… Nicht zuletzt ist das C* auch eine Referenz an China, unseren früheren Lebens- und Schaffensort.
Schichten der Geschichte – was war hier früher?
Nachdem die Entscheidung für Weißensee gefallen war, recherchierte ich, noch in Shanghai sitzend, online zur Geschichte von Weißensee: Gegründet im 13. Jahrhundert als Fischerdorf, dann Gutsbezirk mit Rittergut Weißensee und im 19. Jahrhundert Handelsstandort unter dem Engagement der Familie des Hamburger Kaufmanns Gustav Adolf Schön. Diese Familie legte auch das französische Viertel als Wohnviertel rechts der (heutigen) Berliner Allee an, das später zu DDR-Zeiten in Komponistenviertel umbenannt wurde, und investierte in das Gewerbeviertel mit Fabriken und Gewerbehöfen links der Berliner Allee. Dort am nördlichen Ende der Langhansstraße, benannt nach dem Verwalter des Weißenseer Ritterguts Johann Eduard Langhans, sollte auch unser neuer Arbeitsort sein. Die Vorstellung, dass durch die Langhansstraße einmal eine Pferdebahn der damaligen Neuen Berliner Pferdebahn führte – heute die Tram-Linien M12 und M13 – gefiel mir. Erst 1920 war Weißensee Teil Berlins geworden.
Wie wohl viele andere Menschen auch, dachte ich bei Filmproduktionen und Berlin früher immer an Babelsberg. Dass Weißensee 1913 bereits seinen Ruf als Filmstadt begründet hatte und in den 20er Jahren die größte Stummfilmproduktionsstätte Europas war, Marlene Dietrich hier ihre ersten Filme gedreht hatte, verlieh dem Stadtteil in meiner Vorstellung etwas Abenteuerlich-Glamouröses und machte mich umso neugieriger. Dass das ehemalige Stummfilmkino Delphi am Caligariplatz, heute ein privat betriebenes Theater, ein absolutes Kiez-Highlight ist und mit seiner einzigartigen kuppelartigen Raumarchitektur ” wenn auch etwas morbiden” Glamour versprüht, sollten wir gleich nach unserer Ankunft bei der Teilnahme von „Berlins Hollywood – Back to the Future” erleben. Wow! Was für ein einzigartiger Schatz hinter dieser eher unscheinbaren Fassade. Nachvollziehbar, dass die Location für den Film „Babylon Berlin” gescoutet wurde.
Und natürlich schaute ich mir die Fernsehserie „Weißensee“ und etliche weitere Dokumentationen an, die ich über die DDR-Geschichte finden konnte. In dem Dokumentarfilm von Dirk Sager über Ostberlin aus dem Jahre 1978 berührte mich die Geschichte über das ehemalige Klubhaus Weißensee, den Jugendklub Langhansstraße, damaliger Geheimtipp der alternativen kulturellen Szene mit der Veranstaltungsreihe „Kram-laden”, die von der Liedermacherin Bettina Wegner gegründet und dann später verboten wurde.
Willkommen im Kiez
An meinem ersten Tag in der Weißenseer Spitze traf ich auf der Suche nach einem netten Café um die Ecke unmittelbar auf eine mobile Holzterrasse, das Parklet, vor dem Restaurant Santa Dolores, die einladend und gemütlich aussah. Als ich mich als Neue im Kiez vorstellte, bot mir Francesco gleich einen Willkommenssekt an. Ich war begeistert von der Herzlichkeit und ich fragte mich: Ist es vielleicht so, dass immer dort, wo es noch nicht so viele Orte und Optionen gibt, diejenigen wenigen vorhandenen Treffpunkte dann doch etwas ganz Besonderes haben, man kommt schneller ins Gespräch als wenn es etliche Cafés in der Reihe nebenan gäbe? Je weniger gemeinsame Orte, desto verbindender aber auch? Man trifft sich quasi wie auf kleinstem gemeinsamen Nenner, es entsteht schneller etwas Vertrautes? Es erinnerte mich auch an die ersten Jahre meiner Zeit in China; an den wenigen Orten, an denen sich Ausländer gerne trafen, traf man aber eben auch mit Gewissheit immer Freunde. Das Santa Dolores, sehr persönlich betrieben von einer Spanierin und einem Italiener, ist auf jeden Fall bis heute einer meiner Lieblingsorte.
Filter der persönlichen Erinnerungen – die Höfe und Künstler in der Lehderstraße
Man geht durch Städte immer auch mit einem ganz persönlichen Filter von Bildern anderer Orte. Bei meiner ersten Kiezerkundung war mein Filter der Betrachtung noch stark gefärbt von meinem Leben in China: Als ich die alten, heute zum Teil von Künstlern genutzten Gewerbehöfe in der Lehderstraße entdeckte, legten sich sofort vor meinen Augen die Bilder der Pekinger Hofhäuser darüber mit ihrer besonderen Atmosphäre; als Studentin Anfang der 1990er Jahre in Peking war ich oft mit Künstlern unterwegs gewesen, die in solchen Höfen wohnten und arbeiteten.
Zu unserem Willkommensfest in der Langhansstraße 86, zu dem wir Frau Weise vom Heimatverein Weißensee für eine Stadtführung einluden, erfuhren wir mehr zur Geschichte dieses eigentümlichen Industriearchitektur-Areals: Vorläufer der Höfe sind die Ruthenberg’schen Fabriken, die von dem Industriellen Carl Ruthenberg Anfang des 20. Jahrhunderts als Gesamtanlage „Industrie-Werke Weißensee“ mit einer Mischung aus Gewerbe und Wohnen „auf der grünen Wiese” gebaut wurden; ein Geschäftskonzept, das funktionierte. Markantestes Gewerk war damals die Goldleistenfabrik in der Lehderstraße. Und wie ich erst jüngst von einer Künstlerin im Steinmetzhof erfuhr, ist heute Carl Ruthenbergs Urenkel, der Australier Wayne Camamile, Eigentümer der Höfe. Er habe es sich zur Aufgabe gemacht, das Areal behutsam und vor allem mit Künstler*innen wieder zu neuem Leben zu erwecken. Er klingt nach einem „Stadtmacher”, den ich gerne mal kennenlernen würde.
Spuren Asiens in Weißensee
Natürlich fiel mein Augenmerk bei meinem ersten Kiezspaziergang auch auf die „China-Pfanne“ in der Gustav-Adolf-Straße, ein kleines Bistro. Ich kehrte ein und fühlte mich ein wenig, als sei die Zeit stehen geblieben, gibt es doch ein paar Straßen weiter am Prenzlauer Berg gerade unter den vietnamesischen Restaurants inzwischen äußerst hippe, durchgestylte Orte. Herr Han betreibt seinen Laden alleine und brät die Nudeln selber. Es ist alles ein wenig verblichen, aber auch ganz normal, unprätentiös. Als aus dem Nebenraum ein Gast herüber kam und in die Küche rief „Han, ich nehm mir noch‘ne Flasche aus dem Kühlschrank…“ und Herr Han nur „Jaja, Gerhard, mach das“, antwortete, musste ich an einen Satz aus dem Buch Sung’s Laden von Karin Kalisa denken. Dort schreibt sie an einer Stelle sinngemäß, einer der Unterschiede zwischen West- und Ostdeutschland sei, dass man in Westdeutschland „Zum Vietnamesen“ gehe und in Ostdeutschland zum „Trần an der Ecke“.
Hier in der Kiezkneipe „China-Pfanne” scheint sich eine Gruppe von Stammgästen regelmäßig zu treffen. Getragen von meiner Stimmung der Kiezerkundung fragte ich Herrn Han gleich nach seiner Geschichte und erfuhr, dass er als vietnamesischer Auslandschinese (huaqiao) für Studium und Arbeit als Chemie-Anlagenbauer in die DDR gekommen war, später nach der Wende seinen Job verlor und dann, auch um das Studium seiner Töchter zu finanzieren, die „China-Pfanne” eröffnet hatte. Aus einer Dokumentation über vietnamesische Vertragsarbeiter in der ehemaligen DDR erfuhr ich, dass nur jeder Dritte von ihnen nach dem Mauerfall zurück nach Vietnam gegangen war. Die meisten machten sich in Berlin mit Kleingewerbe selbstständig.
Feng Shui & Architektur
Weitere „China-Spuren” entdeckte ich auch unmittelbar gegenüber unseres Studios in der Langhansstraße Nr. 66. Die großen chinesischen Kalligraphien, die im Arbeitsraum im ersten Stock hingen, sahen nicht aus wie modische Dekoration, sondern legten die Vermutung nahe, dass hier Leute mit engem Bezug zu China oder chinesischer Philosophie arbeiteten. Genau, laut Firmenschild haben hier das auf ökologisches Bauen spezialisierte Architekturbüro arqitektur (man beachte das chinesische Wort QI = Energie im Namen!) sowie das „European College of Feng Shui“ (ECOFS) hier ihren Sitz. Ein persönliches Kennenlernen kam letztlich erst in diesem Sommer zustande, und das STADTMACHER-Team hatte Gelegenheit, den Feng Shui-Meister Howard Choy und die Architektin Gyda Anders zu treffen. (Siehe auch STADTMACHER-Interview mit Howard Choy).
Kiez-Geplauder, Eckläden, Zwischenmenschliches
Zu meiner persönlichen Kiez-Map gehören auch die kleinen Gewerbetreibenden und Eckläden. Einmal in der Woche gehe ich zu „Blümchen” an der Ecke Charlottenburger Straße/Gustav Adolf Straße und suche bei Frau Laon und Herrn Quang gemeinsam mit meiner Tochter einen Blumenstrauß aus. Auch in Shanghai gehörte die Blumenfrau an der Ecke zu unseren vertrauten Mitmenschen im Kiez, und so transferieren wir uns quasi ein bestimmtes vertrautes Gefühl von Lebensqualität auch über große Entfernungen und Grenzen hinweg. Jedes Mal bekommt meine Tochter noch Blumen geschenkt und wir plauderten ein bisschen, und wenn sie nicht dabei ist, erkundigt sich Frau Laon sofort nach ihr. Heute morgen lief ich Frau Laon zufällig an ganz anderer Stelle im Kiez in die Arme und wir hielten einen kleinen Plausch als wären wir „alte Bekannte”. Es ist schön „seine” festen eigenen Lädchen mit den kleinen alltäglichen menschlichen Begegnungen zu haben, und so fühlte ich mich Frau Loan auch zu Treue verpflichtet, als eine Kreuzung näher ein neuer Blumenladen öffnete. So geht es mir auch, wenn ich irgendwo vorbei komme, wo es eine viel größere Auswahl an Blumen gibt. Ebenso ist es mit der Modesdesignerin Martina von „The End of Chases”, die mit ihrer kleinen Boutique, in der sie diverse Berliner Designerinnen vertritt, mit diesem Angebot in diesem Stadtteil ein kleines Monopol innehat. Auch hier ist „die Tür immer offen”, und auch wenn ich nichts kaufen will, gehe ich oft hinein für einen Plausch, eine kleine menschliche Begegnung, die mir ein Gefühl von „Zu Hause” im Kiez gibt. „The End of Chases” ist übrigens tatsächlich – jedenfalls für mich – ein treffender Name: Es hat auch Vorteile, wenn es keine Riesenauswahl gibt, das erleichtert das Leben sehr.
Flanieren über die Spitze hinaus: Jüdischer Friedhof und Wohnstadt Carl Legien
Zu meinen Lieblingsorten über die Spitze hinaus gehören jenseits des Sees auch der Jüdische Friedhof im Komponistenviertel östlich der Langhansstraße sowie das Café Eckstern in der Wohnstadt Carl Legien, nur einen Katzensprung westlich der Ostseestraße, aber schon im Prenzlauer Berg gelegen.
Bevor ich in den Stadtteil zog, war mir unbekannt, dass der größte Jüdische Friedhof Europas in Weißensee liegt. In Shanghai hatte ich mich viel mit der Geschichte jüdischer Flüchtlinge beschäftigt: War Shanghai doch in den 30er und 40er Jahren der letzte Ort, der Juden und Jüdinnen, die vor dem Holocaust auf der Flucht waren, ohne Visum aufnahm. Mehr als 20.000 Jüdinnen und Juden fanden in Shanghai Zuflucht. An der Oberfläche ist der Friedhof ein wunderschöner Kultur- und gleichzeitig Naturort, aber das kulturelle Gedächtnis des Ortes ist unfassbar, wie ich in der Dokumentation Im Himmel, unter der Erde erfuhr.
Das Café Eckstern liegt wie auf einer Insel inmitten der UNESCO-Weltkulturerbe-Wohnstadt Carl Legien, einer Siedlung, die in den 20er Jahren nach Plänen von Bruno Taut, einem der Wegbereiter der modernen Architektur, gebaut wurde. Auch dieser Ort erinnert mich an mein Leben in Shanghai, wo ich das Glück hatte, mehrfach in Häusern zu leben, die aus der gleichen Zeit stammen. Was für eine schöne Vision, wenn es mehr von dieser Art sozialen Wohnungsbaus nicht nur hier, sondern in ganz anderen Dimensionen auch in China heute gäbe. Die Realität in China, das den Sprung von den Megacities zu den Mega-Regionen bereits vollzogen hat und wo die Produktion von Gebäuden schier endlos ist, sieht anders aus: Zwar gibt es in China ästhetische Anleihen an den Bauhaus-Stil, das große sozialistische Bauhaus-Denken und spielt jedoch in der Praxis kaum eine Rolle. Sind die Dimensionen und Versorgungsnotwendigkeiten einfach zu gigantisch für sozialen Anspruch an Urbanisierung? Wenn auch mit ganz anderen Ausgangsparametern ist das Thema des sozialen Wohnungsbaus auf jeden Fall hier wie dort akut.
Local Smarts & Parking DAY
Gleich im ersten Sommer unserer Ankunft im Kiez begeisterte mich die Initiative von Local Smarts, die in Kooperation mit der Interessensgemeinschaft Weißenseer Spitze e.V. beim Wettbewerb „Berlin Mittendrin“ gewonnen hatten mit dem Parklet als zentralem Kommunikationsinstrument zur kulturellen Belebung der Weißenseer Spitze. „Back to Hollywood“ hieß ihr Motto in Anlehnung an die ehemalige Filmstadt Weißensee. Eine weitere Aktion der Initiative war die Teilnahme am internationalen Park(ing) Day, an dem jeweils am dritten Freitag im September weltweit Städte und Straßen mitmachen können. In der Gustav-Adolf-Straße wurden Parkplätze einen Tag lang einmal nicht für Autos sondern für Freizeitgestaltung, Kultur und Begegnung genutzt. Wir waren spät dran mit der Planung, stellten dann einfach eine Tischtennisplatte auf unseren designierten Parkplatz, boten Tee an und lernten gleich neue Menschen aus der Nachbarschaft kennen. Wiederholenswert!
Ost-West Dialog und Begegnung mit Zeitzeugen: Arno Kiehl
Noch viel lebhafter wird die Geschichte, wenn Zeitzeugen erzählen: Erst kürzlich hatte ich das Vergnügen, ein persönliches Gespräch mit einem der Kiez-Ältesten, dem 85-jährigen Arno Kiehl zu führen. Der Kabarettist, Journalist und spätere Lehrmeister hatte seinen beruflichen Weg als Maschinenbauer im ehemaligen „Werkzeugmaschinenbaukombinat 7.Oktober“ begonnen; einer von sieben großen Industriebetrieben, die es zu DDR-Zeiten in Weißensee gegeben hatte. Weitere waren u.a. VEB (Volkseigener Betrieb) Stern-Radio Berlin, das Fleischereikombinat Stern und die Schokoladenfabrik Elfe (vormals Trumpf) nahe der heutigen Kunsthochschule Weißensee. „Alle verschwunden sind sie, sofort liquidiert nach der Wende“, konstatiert Arno Kiehl nicht ohne eine Spur von Bitterkeit in der Stimme. Viele hätten sich auch als Person mit ihrer Ausbildung regelrecht „abqualifiziert“ gefühlt. Er zum Beispiel habe sich trotz vierfacher Ausbildung und Qualifikationen nach der Wende auf dem Arbeitsamt arbeitslos melden und sich groteskerweise erzählen lassen müssen, dass er am besten erst mal eine neue Ausbildung machen solle. Dieses Gefühl sitze tief in vielen vor allem älteren Menschen hier im Osten und man merke das bis heute.
Während ich zuhörte und die Situation wertschätzte, aus erster Hand so viel zu erfahren, entwickelte sich in meinem Kopf die Idee: Da ist doch noch so viel Stoff und Potential und auch Bedürfnis nach Raum zum Erzählen von persönlich erlebter Geschichte, die man in einem STADTMACHER-Salon präsentieren könnte.
Übrigens, noch ein persönlicher Bezug an dieser Stelle: Zufälligerweise hatte die Schule meiner Tochter das Glück, während der Renovierung ihres Plattenbau-Schulgebäudes temporäre Zuflucht in der ehemaligen Schokoladenfabrik Elfe zu finden.
„Bei der Brotfabrik um die Ecke”
Als ich am Anfang Freunden in anderen Berliner Stadtteilen sagte, „Wir ziehen nach Weißensee”, kam öfters der Kommentar: „Ganz schön weit draußen.”
Und das höre ich bis heute manchmal so, auch im beruflichen Kontext. Da hilft es auch nichts, zu argumentieren, dass es doch nur 20 Minuten mit der Tram vom Alex entfernt sei. Inzwischen habe ich herausgefunden, dass die Reaktion ganz anders ist, wenn ich sage: „Wir sind bei der Brotfabrik um die Ecke, nur einen Block nördlich vom Prenzlauer Berg”. Dann heißt es: „Ah, bei der Brotfabrik um die Ecke, cool.”
Wenn der ´Weiße See´ so etwas wie der „Natur-Ankerort“ ist, so ist das Kunst- und Kulturzentrum Brotfabrik am Caligariplatz, ein ehemaliger DDR-Jugendclub, der kulturelle Ankerort hier im Stadtteil, der weit über die Kiezgrenzen hinaus Resonanz hat. „Kunst als Lebensmittel“ und „Nicht kuschelig. Seit 30 Jahren.” steht auf dem großen Plakat mit dem Foto einer Katze an seiner Hauswand. Ein echter Hingucker, der darauf verweist, dass es hier seit langem schon um Haltung geht.
Angekommen im Kiez?!
Ankommen an einem Ort in einer Stadt ist ein Prozess und braucht Zeit: Je mehr Verbindungen, je mehr Wissen, je mehr persönliche Geschichten, desto größer das Wohlgefühl. So glaube ich auch, dass man an sehr vielen Orten auf der Welt lebenswert leben kann: Vielleicht ist es ist weniger die Qualität des Ortes selbst als die der Verbindungen, die man zum Ort entwickelt. Je länger man irgendwo lebt und mit Offenheit Beziehungen zu Menschen und zu Orten kultiviert, desto natürlicher scheint es, dass man langsam „Wurzeln” schlägt, dass etwas Neues „erblüht“, egal ob in Shanghai oder in Weißensee. Und was mein früheres Umfeld Shanghai (jedenfalls in meiner Zeit von 1999-2015) und Weißensee jetzt noch gemeinsam haben, sind viel Freiraum, in gewissem Maße Undefiniertes, ein Versprechen, das in der Luft liegt, dass sich hier noch einiges Spannendes ergeben kann.
Mittlerweile hat auch die Kiez-Katze zu uns gefunden: Seit ein paar Monaten kommt sie, – wir bilden uns ein, sie sei die Katze der Brotfabrik – , mehrmals am Tag zu uns ins Studio zu Besuch, macht es sich manchmal stundenlang bei uns gemütlich oder nimmt sogar meinen Arbeitsplatz ein, wenn ich nicht da bin. Mich macht das froh.
Über Katja Hellkötter
Katja Hellkötter wurde 1971 in Essen geboren und verbrachte ihre Jugend auf dem Land bei Münster/Osnabrück. Zum Studium der Sinologie und Wirtschaft ging sie zunächst nach Bremen, später nach Chengdu, Hohhot und Beijing in China. Von 1999 bis 2015 lebte sie in Shanghai zusammen mit ihrem Partner, dem Fotografen Jan Siefke, und später ihrer Tochter Lynn. In den ersten 10 Jahren ihres beruflichen Lebens in China war sie als Angestellte deutscher Institutionen für die Handelskammer als Umwelt-Area-Managerin und später als Leiterin für das Vertretungsbüro der Hansestadt Hamburg in Shanghai tätig. Seit 2009 ist sie selbstständig und hat mit ihrer Agentur CONSTELLATIONS etliche Dialog- und Kooperationsprojekte im Bereich Kultur, Nachhaltigkeit und Stadt umgesetzt, unter anderem in der Trägerschaft deutscher Stiftungen, wie der Robert Bosch Stiftung oder der Stiftung Mercator.
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