Alte Objekte, neue Bedeutung

Author Mu Bo (穆波)
Published September 2020
Location Wuhan
Wuhan © Yuan Yuan

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Das schnelle Wachstum Wuhans hat den Schutz und die Umgestaltung der Altstadt sowie den Bau und die Entwicklung neuer Stadtteile nicht nur zu einem viel beachteten und diskutierten Thema für unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen werden lassen, sondern berührt auch die unmittelbaren Interessen der Bewohner*innen.

Dem Beispiel anderer chinesischer Städte folgend, hatte sich auch Wuhan das Ziel gesetzt, eine Weltstadt auf internationalem Niveau zu werden. Die rasante Expansion führte dazu, dass Wuhan zu einer Stadt unter vielen, ohne chinesische Eigenheiten wurde. Die einzige Besonderheit, die diese Entwurzelung und das Mit-dem-Trend-gehen hervorgebracht haben, ist eine Selbstkolonialisierung. Wenn man durch Wuhan fährt, sieht man Gebäude aller Art, die einen westlichen Stil nachahmen: das Carmel-Dorf, den Court de Luxe Paris, Seine-Ufer, Jindi Saint Emilion, California Orange County, Little Northampton, Orientalischer Walzer. Getrieben vom Prinzip der Gewinnmaximierung sind chinesische Städte zu Ansammlungen raubkopierter ausländischer Architektur und Orten der Selbstkolonialisierung geworden. Viele westliche Forscher wundern sich darüber: „Warum nur gibt man all diesen Immobilienprojekten ausländische Namen, wo China doch so eine faszinierende eigene Kultur und Geschichte hat?“.

Eine italienische, spanische und eine deutsche Fußgängerzone bilden das Geschäftszentrum des Optical Valley, im Zentrum des Ganzen ragt eine hohe Kirche im gotischen Stil auf und veranlasst die Leute, dem Konsum zu huldigen. Hier finden sie eine exotische, gehobene und modische Atmosphäre. Aber für Menschen mit Wissen und Verständnis von Design handelt es sich bei diesen Gebäuden nur um eine beliebige Anhäufung von Gebäuden unterschiedlicher Stile, die zusammen eine andere Art von Disneyland ergeben. In diesem Gewusel finden die Menschen kurzfristig Freude und Befriedigung.

Einstellungen gegenüber dem kolonialen Erbe

Das schnelle Wachstum Wuhans hat den Schutz und die Umgestaltung der Altstadt sowie den Bau und die Entwicklung neuer Stadtteile nicht nur zu einem viel beachteten und diskutierten Thema für unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen werden lassen, sondern berührt auch die unmittelbaren Interessen der Bewohner. In diesem entscheidenden Moment erkannte die Regierung von Wuhan den wirtschaftlichen und kulturellen Wert der westlichen Gebäude und ergriff dementsprechend eine Reihe von Schutzmaßnahmen. Dabei wurde die Geschäftsstraße und Fußgängerzone Jianghan Road, die sich auf dem absteigenden Ast befand, dreimal umgestaltet und überholt, und erfuhr mit jedem Mal eine Aufwertung. Zuletzt geschah dies während der Geschäftsflaute in der Corona-Krise zwischen April und Juli 2020. Die Jiangshan Road war drei Monate lang abgesperrt, um sie in das in ein Aushängeschild der Stadt zu verwandeln, einen Ort, den Einheimische oft und gerne, und auswärtige Besucher unbedingt besuchen werden.

Über die Einstellung der Wuhaner Bürger zu ihrem kolonialen Bauerbe geben die 234 Antworten einer Online-Umfrage Auskunft: 81,62 % finden, es solle besonders geschützt werden, und nur 1,28 % meinen, es müsse komplett umgestaltet werden, weil es für die Schande der Kolonialisierung stehe. Die ehemalige Konzession von Hankou nehmen 79,06 & zuallererst als Ort mit einem intensiven Gefühl von Historie wahr, und 5,56 % denken dabei vor allem an die Verbrechen der Kolonialzeit.

Überlegungen zum kolonialen Erbe: Alte Objekte, neue Bedeutung

Während der „Zerstört die vier Alten“-Kampagne in der Kulturrevolution in den 60er und 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurden unzählige Kulturdenkmäler und Gebäude zerstört und beschädigt. Diese radikale Bewegung war für Gesellschaft und Kultur eine große Katastrophe. Wie aber Wird Altes und Neues definiert? Die Bedeutung eines Objektes wird ihm sowieso von Menschen verliehen. Manch einer glaubt sogar, er besäße einen Gegenstand, und weiß gar nicht, dass er ihn nur beaufsichtigt, während die Objekte dabei zusehen, wie die Menschen in einem ewigen Kreislauf sterben und geboren werden.

Wenn es darum geht, einer Sache eine neue Bedeutung zu verleihen, stellt sich die Frage, wer sie eigentlich verleiht? Und was wird auf welche Weise vergeben? Darüber lohnt es sich, einmal nachzudenken. 2013 nahm der Künstler Cai Xinyuan mit seinem Team das ehemalige Grande Custom House als Kulisse und produzierte die Lichtinstallation „Wuhan Customs Light and Shadow Show“. 30.000 Menschen versammelten sich um das alte Gebäude, während virtuelle 3D-Bilder darauf projiziert wurden. Diese die Realität übertreffende visuelle Ausdrucksform präsentierte unter dem Motto „Die Wiederbelebung von Wuhans Größe“ in verschiedenen Kapiteln wie Landschaft, historischer Wandel, Erfolge des Aufbaus und Zukunftsträumen die historische Kultur der Stadt und ihren nach Exzellenz strebenden Pioniergeist. Warum wurden diese kolonialen Gebäude als Hintergrund verwendet? Eine solche Inszenierung wird sich unmerklich auf die Meinung der Menschen zum architektonischen Kolonialerbe auswirken.

Die Spaltung von „schön“ und „gut“ bei den Kolonialbauten

In klassischen Werken zu Ästhetik heißt es meistens, gut und schön sei ein und dasselbe. Im alten China galten „gut“ und „schön“ als Synonyme, und im Westen war es kaum anders: Socrates setzte das Schöne mit dem Guten gleich. Zur Geschichte der westlichen Bauten in Wuhan können wir sagen, dass, wenn auch die Umstände ihrer Entstehung nicht „gut“ waren, heute aber kaum jemand die Bauten selbst als „nicht schön“ bezeichnen würde. Der Bedeutungsgehalt von „Kolonialgeschichte“ wurde schrittweise bereits ausgehöhlt, übrig geblieben ist die „Schönheit der Bauten“ als äußere Form. Vielleicht passt ein Zitat Tolstois hierzu: „Es ist erstaunlich, dass man immer wieder in den Fehler verfällt, Schönheit mit Güte zu gleichzusetzen.“ Wenn man die Geschichte mit den Augen der Geschichte betrachtet, und das Heute mit den Augen des Fortschritts, dann ist den Objekten kein Wert inhärent, sondern sie bekommen ihn von den Menschen zugeschrieben, die sie bewerten. Gut und böse, schön und hässlich sind also subjektive Zuschreibungen, und dass die Menschen den Fokus vorzugsweise auf das Schöne legen, ist eigentlich keine schlechte Sache. So hat der Künstler Xu Zhengbing mit seinem Team das Kunstwerk „Painting Wuhan with Characters“ geschaffen, und dabei aus Elementen der Kolonialbauten Zeichen kreiert, die die Schönheit der Gebäude an der Jianghan Road und der Tanhualin Road, die Schönheit Wuhans und die Schönheit chinesischer Zeichen inszenieren.

Extremer Nationalismus verbreitet sich seit einigen Jahren in der ganzen Welt, und hat bei der Frage, wie mit kolonialem Erbe umzugehen ist, zu einem Auseinanderdriften der Ansichten geführt: die Verstärkung des kolonialen und bösen Aspektes erlaubt es nicht, Kunst, Politik und Geschichte auseinander zu halten. Schaut man jedoch einmal in die Geschichte, so sind die Chinesische Mauer, die ägyptischen Pyramiden und andere Bauwerke alle Ergebnisse einer bestimmten Phase der Geschichte, an deren abstoßende Aspekte man sich nicht gerne erinnert, – und trotzdem sind sie heute streng geschützt. Wäre es anders, so kann man sich vorstellen, dass es nur sehr wenige menschliche Hinterlassenschaften gäbe, die es wert wären, bewahrt zu werden. Es existiert kein Gebäude oder Denkmal, dessen Bedeutung auf immer und ewig in Stein gemeißelt ist, sondern es sind Menschen, die ihnen eine Bedeutung verleihen. Wenn irgendeiner Statue ein einseitiges Etikett politischer Korrektheit oder Nicht-Korrektheit aufgeklebt wird, dann löst das bestimmt Konflikte aus. Nach der Zerstörung und der Aufregung bietet sich in der Zukunft vielleicht eine Chance zur Reflexion und Wiedergutmachung.

Der Soziologe Zhang Weiwei hat gesagt: „Schuld am aktuellen Niedergang der Gesellschaft ist der einfältige Populismus.” Ob eine Stadt ihr koloniales Erbe pflegt, erhält und der Welt zeigt, ist einerseits eine Frage des Respekts vor der Geschichte, andererseits kann dadurch auch ein starker Wille zur Zusammenarbeit zwischen West und Ost sowie Offenheit und Selbstbewusstsein, Weitblick und eine tiefe Geisteshaltung verkörpert werden.

Zusammenfassung

Nach einem Zitat des US-amerikanischen Dichtern Ralph Waldo Emerson existiert eine Stadt kraft ihrer Erinnerungen. Was das Gedächtnis angeht, einschließlich des erstarrten und des leicht zugänglichen, so ist zwar die leidvolle Geschichte, die das koloniale Erbe mit sich trägt, erstarrt, aber das leicht zugängliche lebt in den Menschen; wenn sie sich neben den Gebäuden an der Hanjiang Road ausruhen oder amüsieren, dann verleihen sie diesem Erbe neue Bedeutungen. Die Bedeutung des kolonialen Erbes zu vereinfachen oder es in eine Schublade zu stecken, ist mit Risiken verbunden. Stattdessen sollte man mit einer profunden Geisteshaltung eine Objektivierung des kolonialen Erbes anstreben, denn nur so kann man erreichen, dass dieses Objekt genug Raum bietet, um unzählige individuelle, subjektiven Erinnerungen und neue Bedeutungen aufnehmen zu können. Vielleicht ist das ein Zeichen größten Respekts für die Geschichte einer Stadt. Zum Schluss möchte ich uns alle mit einem Satz von Sokrates zum Nachdenken anregen: „Die größte Weisheit des Menschen ist, zu wissen, dass er nichts weiß.“

Über den Autor

Mu Bo (穆波) hat je einen Masterabschluss der Universität für Angewandte Künste Wien und vom Jingdezhen Ceramic Institute und ist Dozent am Wuhan Institute of Technology. Seine Forschungsinteressen sind nachhaltiges Design, die Entwicklung von kreativen Kulturprodukten und Social Design. Er hat mehrere Forschungsprojekte geleitet, darunter im Bereich Geistes- und Sozialwissenschaften für das Bildungsministerium der Provinz Hubei, ein Schlüsselprojekt des Wissenschafts- und Technologieentwicklungszentrums des Bildungsministeriums im Rahmen des Innovationsfonds für Lehre, Produktion und Forschung an Hochschulen (2019 ), ein Projekt des Forschungs- und Designzentrums für Ökologie und Umwelt der Schlüsselforschungsbasis für Geistes- und Sozialwissenschaften der Provinz Hubei, sowie 3 vom Wuhan Institute of Technology finanzierte Projekte. Mu Bo ist Autor eines Fach- und eines Lehrbuches sowie von mehr als 30 wissenschaftlichen Artikeln. Seine Kunstwerke, für die er mehr als 20 Auszeichnungen erhalten hat, wurden auf zahlreichen Ausstellungen im In- und Ausland gezeigt, zum Beispiel in der Ausstellung „The Essence“ der Universität für Angewandte Künste Wien, in der Ausstellung „Social Design“ des Bezirks Oberwart im Burgenland, und in Ausstellungen in Wien, die parallel zur Wanderausstellung zur österreichischen Kulturhauptstadt Europa 2024 stattfinden.

Übersetzung: Maja Linnemann

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