Nach dem deutschen Philosophen Nietzsche hat die menschliche Gesellschaft in der Geschichte immer auf zwei grundlegende Impulse reagiert: Das eine ist der Ausdruck individueller Launen, das „Dionysische“, wie Nietzsche es nannte, das immer mit Ekstase, Übergang und Chaos verbunden ist. Das zweite ist ein nach außen gerichtetes Streben nach einer transzendenten, von Vernunft geprägten Welt, das „Apollinische“ nach Nietzsche, das Praxisnähe, Verstand und Ordnung betont.
Nach Nietzsches Theorie steht der dunkelsinnige, dionysische Geist der Chu im Gegensatz zur orthodoxen chinesischen Zivilisation der Vernunft. Die Menschen von Chu lehnen Regeln und Belehrungen ab und haben ihre Instinkte, Sinnlichkeit und Gefühle bewahrt. Das Aufblühen von Menschlichkeit und rechtschaffenem Mut mögen der Grund dafür sein, dass die Xinhai-Revolution von 1911, die die zweitausendjährige Kaiserzeit beendete, in Wuhan ausbrach und es mag auch die Quelle des Mutes unzähliger Wuhaner sein, sich während der Corona-Epidemie für Whistleblower einzusetzen.
Wuhan war aufgrund seiner strategischen Lage am Zusammenfluss des Jangtze und des Hanshui-Flusses militärisch zu allen Zeiten hart umkämpft. Zahlreiche Schlachten wurden hier ausgetragen und die Stadt mehrmals zur Hauptstadt ernannt, allerdings nie für lange Zeit, wahrscheinlich, weil sie in dieser Schlüsselposition so schwer zu verteidigen ist. Obwohl Wuhan also prosperierende Zeiten erlebt hat, krebst es weiterhin am Rande herum. Das scheint das Schicksal der Wuhaner zu sein, und hat auch ihre geistige und kulturelle DNA geformt.
Auch in der jüngeren Geschichte hat Wuhan einige leuchtende Momente gesehen, gilt die Stadt doch als Geburtsstätte der modernen Industrie Chinas und entwickelte sich zu einer bedeutenden Industriebasis. Der Außenhandel hat dazu beigetragen, dass Wuhan zu einer der größten und internationalsten Städte Chinas geworden ist und dabei zeitweilig auf dem zweiten Platz knapp hinter Shanghai lag. Die Tumulte im Zusammenhang mit den Aufständen der Taiping-Rebellen in Zentralchina und darüber hinaus machten Wuhan in der Vergangenheit zu einem Zentrum des Teehandels. Chinas erste Brücke über den Jangtse-Fluss wurde ebenfalls in Wuhan errichtet. Erst mit dem Beginn der Reform- und Öffnungspolitik 1978 zeigte die Planwirtschaft in Wuhan Ermüdungserscheinungen und Wuhans Stellung verblasste vor dem Hintergrund des Wirtschaftswachstums der neuen Zeit nach und nach. Heute hat Wuhan ein „Optical Vally“, Fahrzeugindustrie, Schwerindustrie, die landesweit höchste Zahl von eingeschriebenen Studierenden und ist sogar eine der von der UNESCO weltweit designierten Design-Hauptstädte. Während Wuhan aber immer noch nach seinem wahren neuen Platz sucht, krempelt die wilde Bautätigkeit es wieder und wieder um. Dazu passt das Motto der Stadt: „Wuhan – jeden Tag anders“.
Ein guter Freund und Lehrer von mir ist ein berühmter Architekturfotograf, der auch die Veranstaltungsserie „Deutschland und China gemeinsam in Bewegung“ in führender Position fotografisch begleitet hat. Seit vielen Jahren dokumentiert er die alten, wettergegerbten Gebäude Wuhans und macht sich große Sorgen, dass wir Veränderungen durchmachen, wie es sie seit tausend Jahren nicht gegeben hat, weil die Stadt im Begriff ist, die steinernen Zeugen ihrer früheren Existenzen zu verlieren.
In den letzten Jahren habe ich zusammen mit den Freiwilligen der NGO China Endangered Culture Protectors Wuhans historisches Bauerbe erforscht und Interviews mit Zeitzeugen geführt. Dabei habe ich praktisch jede Straße und jede Gasse Wuhans abgelaufen. Was wir bei unseren Erkundungszügen historisches aus diesen alten Hüllen, die so viel gesehen haben, ausgraben, erfüllt uns mit Begeisterung, aber oft auch mit Bedauern. Die Stadt hat sich bereits zur Unkenntlichkeit verändert, aber es bleibt zu hoffen, dass vieles im Gedächtnis der Menschen weiterleben wird. Darin zumindest sehe ich einen Sinn des Wuhan Memory Map Projekts.
Einige Orte: Die Yaobang-Gasse bei der Hanzheng Straße und ihre Umgebung
Die Yaobang Gasse ist die letzte Gasse in der Altstadt von Hankou, die noch das ursprüngliche Pflaster aus Steinplatten hat. Die Gegend ist wie eine überspitzte Version von Whitechapel in London oder dem Wedding in Berlin. Auf beinah magische Weise sieht man hier Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft dicht nebeneinander. In Häusern aus der Ming-, Qing- und Republikzeit, die nach Jahrzehnten der Kriegswirren und politischen Bewegungen kurz vor dem totalen Verfall stehen, wohnen kleine Händler, Handwerker und Produzenten, einfache Leute, mit denen ich gerne plaudere, weil sie viel menschliche Wärme ausstrahlen und mit beiden Beinen im Leben stehen. Alles existiert hier auf engstem Raum, neben den alten Gassen sind aus den Abrissgebieten bereits die ersten Wolkenkratzer in den Himmel geschossen. Außerdem gibt es noch ein paar historische Viertel, die jetzt leerstehen, aber nicht abgerissen werden. Sie sind von Mauern umgeben und warten darauf, zu „Kulturellen Straßenensembles“ umgebaut zu werden, wobei die kulturelle Attraktivität dieser vom Kapital umgeformten Viertel immer wieder in Frage gestellt wird. Der Vater des britischen Premierministers Winston Churchill, Henry S. Churchill, hat geschrieben, eine Stadt seien ihre Bewohner. Während der technische Fortschritt unablässig voranschreitet, wage ich auf die Frage, wie lebenswert unsere Städte eigentlich sind, noch keine abschließende Antwort. Um unorthodoxe Antworten darauf zu finden, wie eine alte Zivilisation ihre Geschichte und Kultur verstehen und mit ihr umgehen kann, und wie eine Stadt mit langer Geschichte das kulturelle Erbe ihrer Vorfahren pflegen soll, lohnt es sich, hier ein wenig herumzuspazieren.