Spazieren, miteinander Reden, Erinnern

Author Yang Fan
Published September 2020
Location Wuhan
© Yuan Yuan

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Was für eine Stadt ist Wuhan? Auf diese Frage eine Antwort zu geben, ist nicht leicht, andererseits gibt es aber auch sehr viele Antworten. Ist sie das Zentrum Chinas? Ein historisch bedeutender Ort? Eine strategische Industriebasis? Eine Stadt am Wasser, von der Schifffahrt geprägt? Das Chicago des Ostens? Eine äußerst populistische Stadt? Chinas größte Provinzstadt? Heimat der heißen ganmian-Nudeln? Ursprung von Flüchen mit Lokalkolorit? Chinas heimliche Hauptstadt des Punks? Bevor sich in diesem Jahr die Corona-Viruskrise von Wuhan aus in die Welt ausbreitete (wie schade, dass Wuhan gerade auf diese Weise bekannt werden musste), war die Reaktion der meisten Menschen auf der Welt zu Wuhan so ähnlich wie jene in einem Filmdialog von Bruce Willis: „Wuhan? Wu- was?“

Als jemand, der seit vielen Jahren in Wuhan lebt, sich auch nur langsam eingelebt hat und nun von sich sagen kann, die Stadt ein wenig zu kennen, muss ich sagen, dass es sehr schwer ist, eine einfache Definition oder Einordnung der Stadt vorzunehmen. Außerdem repräsentiert meine Wahrnehmung von Wuhan nur meine eigene Position, sie ist nicht unbedingt exakt und deckt sich auch nicht unbedingt mit der Ansicht anderer Menschen. Aber Individualität ist ja gerade das, was wir wollen, nicht wahr?

Jedwede Geschichte entstammt einem „feuchten Traum”. Das Land, auf dem Wuhan an den Ufern der Flüsse Jangtse und Hanshui liegt, ist seit alters her ein enges Netz aus Wasserläufen mit dichtem Schilfwuchs und eine reiche Vogel- und Fischwelt. Die von Wasser bedeckte Fläche übertrifft bei weitem die Landflächen, die ganze Provinz Hubei ist etwa halb so groß wie Deutschland. Es ist wirklich ein märchenhafter großer Sumpf, der schon in alten Zeiten als „Sumpftraum unter Wolken“ besungen wurde. Auch heute noch wird Wuhan „Stadt der tausend Seen“ genannt, da sie in China die Stadt mit den meisten Seen und mit dem East Lake auch dem größten See ist. Viele Ortsnamen in Wuhan beinhalten die Zeichen für „Terrasse“, „Erdhügel“ oder „Böschung“ und spiegeln damit das Leben in einem Feuchtgebiet und die Suche früherer Bewohner „nach Gras und Wasser zum Leben und nach Erdhügeln als Grabstätten“ wider. Angesichts der Überflutungen der letzten Zeit sorgen sich manche Menschen, dass wir wieder zu so einer Lebensform zurückkehren könnten, aber in der Tat sind viele der neuen Stadtviertel, die in den letzten Jahren in rasantem Tempo hochgezogen wurden, ursprünglich „Wassersiedlungen“. Nach starken Regenfällen werden sie schnell zu Sümpfen, so dass viele Besucher zu sagen pflegten, „wir fahren nach Wuhan, um das Meer zu sehen“. Diese Zustände wurden in den vergangenen Jahren durch das „Schwamm-Programm“ gelindert.

Der Liangzi See ist der zweitgrößte See der Provinz Hubei. Die Anwohner haben am Ufer einen Drachenpalast gebaut, wie es an Meerküsten üblich ist.

Für die Chinesen der Huaxia-Königreiche in den fernen Ebenen des Nordens war dieses nur schwer zu durchquerende Sumpfgebiet sozusagen die Grenze der Zivilisation. Wuhan lag also genau an der Grenze der orthodoxen Zivilisation des chinesischen Kerngebiets und den Siedlungsgebieten sogenannter „barbarischer“ Stämme. Die im Norden Wuhans gelegene Stadt Panlong wird von Archäologen als Beweis für die Expansionstätigkeit des Shang-Reiches nach Süden gesehen. Und in den Bergregionen südlich von Wuhan leben seit sehr langer Zeit verschiedene Volksgruppen wie die Yao und die Miao, deren Herkunft auf den noch älteren Jiuli-Stamm zurückgeführt wird. Sie sind Abkömmlinge des mythischen Stammesführers und Kriegsgottes Chiyou. Der Sage nach wurden die Jiuli vor 5000 Jahren in einer welterschütternden Schlacht vom Gründervater der Chinesen, dem Gelben Kaiser, geschlagen, wonach sie in die Grenzregionen der zivilisierten Welt vertrieben wurden und fortan als „Man-Barbaren“ verachtet wurden. Dies ist eine Tragödie, die quasi 5000 Jahre lang andauerte, aber gleichsam auch ein Glück. Wie die Juden haben diese Völker eine zähe Widerstandskraft entwickelt, und egal wohin sie zogen oder auf was für Umstände sie trafen, haben sie ihre eigenen Traditionen und ihr Gedächtnis auf eine kraftvolle Art und Weise bewahrt, die Außenstehenden Bewunderung abringt, und so innerhalb des historischen und kulturellen Narrativs eine wertvolle alternative Version erzeugt.

Festungsanlagen und Wege in den Bergen südlich von Wuhan, die möglicherweise in alten Zeiten von Mitgliedern der Yao-Ethnie angelegt wurden.

Allem Anschein nach sind diese Menschen genügsam und zufrieden, Berge und Bäume bilden die Konstanten ihres Lebens, wie auch ihre Werte konstant sind, alle wissen, was „gut“ ist oder was Kameradschaft bedeutet. Von ihnen hört man nicht alle paar Jahre den Ausruf „Oh, wie hat sich die Welt geändert!“.

Oder ist es vielleicht so, dass die Verlierer das wertschätzen, was ihnen geblieben ist?

Etwa achthundert Jahre lang gehörte das heutige Wuhan zum Königreich Chu, weshalb sich die Wuhaner als Nachfahren von Chu bezeichnen. Das Königreich Chu wurde vom Königreich Zhou, dessen Zentrum sich in den Ebenen am Mittel- und Unterlauf des Gelben Flusses befand, als halb-barbarisch angesehen. Die Menschen aus Chu glichen dem schwarzen Schaf einer Familie, dem Kind mit aufbrausendem Charakter, das selten gelobt wird und sich nicht beugt, wenn es ungerecht behandelt wird. Dies belegen heute noch Redensarten im Wuhaner Lokaldialekt, wie „Zhou nicht gehorchen“ oder der Spruch „Am Himmel ist der neun-köpfige Vogel, auf Erden sind die Kerle aus Hubei“, der den tapferen, eigensinnigen Charakter der Bewohner von Wuhan und Hubei beschreibt.
Diese wilden Kinder, die in den südlichen Mooren und Bergen aufgewachsen sind, haben eine naive und besonders ausgeprägte reiche Fantasie. Der Hang zu Magie und Geisterbeschwörung der Menschen von Chu ist ein wichtiges Element in den Gedichten von Chinas größtem romantischem Dichter, Qu Yuan, der auch einer meiner Lieblingsdichter ist. In dem Gedichtzyklus „Neun Lieder. Der Berggeist“ zum Beispiel beschreibt er auf unvergleichlich romantische Art seine Begegnung mit einer Bergfee:

Sieh, da ist jemand auf des Berges Spitze, eingehüllt in Feigenblätter und Bänder aus Jungfernseide,
Lächelnde Lippen und ein ausdrucksvoller Blick: Du bewunderst mich, meinen Liebreiz und meine Anmut.

In Mitteldeutschland, rund um den Brocken in Harz, sollen sich die Hexen zum Feiern treffen. Vor zwei Jahren bin ich dort gewandert, es stürmte und regnete, die Wolken hingen tief und Nebelschwaden zogen durch die dichten, alten Wälder. In der Dunkelheit schienen menschliche Schatten zu schweben. Ich wusste nicht, ob ich auf eine besenreitende Hexe treffen würde oder auf die Bergfee aus dem Gedicht von Qu Yuan. Wie auch immer, die geheimnisvolle Kultur der Chu ist erregend und ehrfurchteinflößend, ganz unmerklich verführt sie dich in einem Winkel deines Bewusstseins.

Noch heute existiert hier und da in der Provinz Hubei so mancher geheimnisvolle Brauch der Geisterbeschwörung, was sonst in China eher die Ausnahme ist. Zum Beispiel die „starren Löwen“ von Huangpi: Jedes Jahr zum Drachenbootfest werden in Huangpi, im Norden von Wuhan, Löwentänze aufgeführt. Aber anders als die lebendigen und beschwingten Tänze der „wachen Löwen“ im Rest des Landes, ist es hier ein rauschartiger, fast besessener Tanz mit „starren Löwen“. Die Tänzer inhalieren eine Art Rauch und geraten so in einen Zustand der Trance, der auch mit gewissen Aggressionen verbunden ist. Niemand kann erklären, wie sich dieser unfassbare Brauch nur wenige Kilometer vom Zentrum Wuhans hat halten können – aber es handelt sich eben um das ehemalige Gebiet des Reiches von Chu!

Zwei Löwentänzer in Trance.

Nach dem deutschen Philosophen Nietzsche hat die menschliche Gesellschaft in der Geschichte immer auf zwei grundlegende Impulse reagiert: Das eine ist der Ausdruck individueller Launen, das „Dionysische“, wie Nietzsche es nannte, das immer mit Ekstase, Übergang und Chaos verbunden ist. Das zweite ist ein nach außen gerichtetes Streben nach einer transzendenten, von Vernunft geprägten Welt, das „Apollinische“ nach Nietzsche, das Praxisnähe, Verstand und Ordnung betont.

Nach Nietzsches Theorie steht der dunkelsinnige, dionysische Geist der Chu im Gegensatz zur orthodoxen chinesischen Zivilisation der Vernunft. Die Menschen von Chu lehnen Regeln und Belehrungen ab und haben ihre Instinkte, Sinnlichkeit und Gefühle bewahrt. Das Aufblühen von Menschlichkeit und rechtschaffenem Mut mögen der Grund dafür sein, dass die Xinhai-Revolution von 1911, die die zweitausendjährige Kaiserzeit beendete, in Wuhan ausbrach und es mag auch die Quelle des Mutes unzähliger Wuhaner sein, sich während der Corona-Epidemie für Whistleblower einzusetzen.

Wuhan war aufgrund seiner strategischen Lage am Zusammenfluss des Jangtze und des Hanshui-Flusses militärisch zu allen Zeiten hart umkämpft. Zahlreiche Schlachten wurden hier ausgetragen und die Stadt mehrmals zur Hauptstadt ernannt, allerdings nie für lange Zeit, wahrscheinlich, weil sie in dieser Schlüsselposition so schwer zu verteidigen ist. Obwohl Wuhan also prosperierende Zeiten erlebt hat, krebst es weiterhin am Rande herum. Das scheint das Schicksal der Wuhaner zu sein, und hat auch ihre geistige und kulturelle DNA geformt.

Auch in der jüngeren Geschichte hat Wuhan einige leuchtende Momente gesehen, gilt die Stadt doch als Geburtsstätte der modernen Industrie Chinas und entwickelte sich zu einer bedeutenden Industriebasis. Der Außenhandel hat dazu beigetragen, dass Wuhan zu einer der größten und internationalsten Städte Chinas geworden ist und dabei zeitweilig auf dem zweiten Platz knapp hinter Shanghai lag. Die Tumulte im Zusammenhang mit den Aufständen der Taiping-Rebellen in Zentralchina und darüber hinaus machten Wuhan in der Vergangenheit zu einem Zentrum des Teehandels. Chinas erste Brücke über den Jangtse-Fluss wurde ebenfalls in Wuhan errichtet. Erst mit dem Beginn der Reform- und Öffnungspolitik 1978 zeigte die Planwirtschaft in Wuhan Ermüdungserscheinungen und Wuhans Stellung verblasste vor dem Hintergrund des Wirtschaftswachstums der neuen Zeit nach und nach. Heute hat Wuhan ein „Optical Vally“, Fahrzeugindustrie, Schwerindustrie, die landesweit höchste Zahl von eingeschriebenen Studierenden und ist sogar eine der von der UNESCO weltweit designierten Design-Hauptstädte. Während Wuhan aber immer noch nach seinem wahren neuen Platz sucht, krempelt die wilde Bautätigkeit es wieder und wieder um. Dazu passt das Motto der Stadt: „Wuhan – jeden Tag anders“.

Ein guter Freund und Lehrer von mir ist ein berühmter Architekturfotograf, der auch die Veranstaltungsserie „Deutschland und China gemeinsam in Bewegung“ in führender Position fotografisch begleitet hat. Seit vielen Jahren dokumentiert er die alten, wettergegerbten Gebäude Wuhans und macht sich große Sorgen, dass wir Veränderungen durchmachen, wie es sie seit tausend Jahren nicht gegeben hat, weil die Stadt im Begriff ist, die steinernen Zeugen ihrer früheren Existenzen zu verlieren.

In den letzten Jahren habe ich zusammen mit den Freiwilligen der NGO China Endangered Culture Protectors Wuhans historisches Bauerbe erforscht und Interviews mit Zeitzeugen geführt. Dabei habe ich praktisch jede Straße und jede Gasse Wuhans abgelaufen. Was wir bei unseren Erkundungszügen historisches aus diesen alten Hüllen, die so viel gesehen haben, ausgraben, erfüllt uns mit Begeisterung, aber oft auch mit Bedauern. Die Stadt hat sich bereits zur Unkenntlichkeit verändert, aber es bleibt zu hoffen, dass vieles im Gedächtnis der Menschen weiterleben wird. Darin zumindest sehe ich einen Sinn des Wuhan Memory Map Projekts.

Einige Orte: Die Yaobang-Gasse bei der Hanzheng Straße und ihre Umgebung

Die Yaobang Gasse ist die letzte Gasse in der Altstadt von Hankou, die noch das ursprüngliche Pflaster aus Steinplatten hat. Die Gegend ist wie eine überspitzte Version von Whitechapel in London oder dem Wedding in Berlin. Auf beinah magische Weise sieht man hier Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft dicht nebeneinander. In Häusern aus der Ming-, Qing- und Republikzeit, die nach Jahrzehnten der Kriegswirren und politischen Bewegungen kurz vor dem totalen Verfall stehen, wohnen kleine Händler, Handwerker und Produzenten, einfache Leute, mit denen ich gerne plaudere, weil sie viel menschliche Wärme ausstrahlen und mit beiden Beinen im Leben stehen. Alles existiert hier auf engstem Raum, neben den alten Gassen sind aus den Abrissgebieten bereits die ersten Wolkenkratzer in den Himmel geschossen. Außerdem gibt es noch ein paar historische Viertel, die jetzt leerstehen, aber nicht abgerissen werden. Sie sind von Mauern umgeben und warten darauf, zu „Kulturellen Straßenensembles“ umgebaut zu werden, wobei die kulturelle Attraktivität dieser vom Kapital umgeformten Viertel immer wieder in Frage gestellt wird. Der Vater des britischen Premierministers Winston Churchill, Henry S. Churchill, hat geschrieben, eine Stadt seien ihre Bewohner. Während der technische Fortschritt unablässig voranschreitet, wage ich auf die Frage, wie lebenswert unsere Städte eigentlich sind, noch keine abschließende Antwort. Um unorthodoxe Antworten darauf zu finden, wie eine alte Zivilisation ihre Geschichte und Kultur verstehen und mit ihr umgehen kann, und wie eine Stadt mit langer Geschichte das kulturelle Erbe ihrer Vorfahren pflegen soll, lohnt es sich, hier ein wenig herumzuspazieren.

In der der Altstadt sitzt ein Junge auf einer Mauer an der Changdi Gasse und beobachtet die Abrissarbeiten.

Grab eines Chu-Königs in Jiangxia

In der Ming-Dynastie achteten die Könige und Fürsten bei der Wahl ihrer Grabstätten sehr auf das Fengshui. Ein deutscher Freund von mir in Berlin beschäftigt sich auch mit Fengshui, ich wünsche mir sehr, dass er mal nach Wuhan kommt, denn das Fengshui hier ist hervorragend! Für mich ist Fengshui nicht einfacher Aberglaube, sondern eher eine Art Ästhetik, eine Philosophie und eine Kultur, oder vielleicht ein Deutungsansatz. Früher war dies hier ein Ruinenfeld, ein Durcheinander von Dachziegeln und Mauersteinen der früheren mingzeitlichen Bauten des Fürstengeschlechts, es sah aus als sei erst gestern eine Katastrophe geschehen. Dann wurde aufgeräumt und restauriert, so dass es heute fast ein wenig „zu sauber“ aussieht. Nichtsdestotrotz ist es ein Ort, der zum Erkunden und zur nostalgischen Rückbesinnung einlädt. Es genügt, einfach nur staunend und schweigend da zu stehen.

Der Fabelgarten am East Lake

Liu Zhengde ist ein zeitgenössischer chinesischer Bildhauer, den ich sehr mag. 1986 hat er den ersten Statuenpark Chinas entworfen, der sich alte Fabeln zum Thema genommen hat. Der Park liegt in einem ruhigen Winkel etwas abseits beim East Lake. Liu hat die Fabeln auf moderne Weise aber vor allem auch mit viel Humor dargestellt. Auch wenn es solche Themenparks inzwischen wie Sand am Meer gibt, ist es doch mit den schönen Steinen ein atmosphärischer Ort. Wenn du gerne am Seeufer im Mondschein mit ruhigen Freunden ein Gläschen trinkst, dann bist du hier richtig.

Gebäude des Eklektizismus in Wuhan

Nichts könnte besser zu einer Stadt wie Wuhan, die weder dem Norden, dem Süden, dem Osten noch dem Westen eindeutig zuzuordnen ist, passen, als der Eklektizismus. Hinzu kommt, dass die Wuhaner gerne respektvollen Abstand von Regeln aller Art halten. Viele Gebäude weisen also eine gemischte und kreative Gestaltung auf, und verkörpern damit das Zusammentreffen verschiedener Kulturen und Stilen. Gleich mehrere Kirchen der US-amerikanischen episkopalischen Kirche in Wuchang wirken sehr chinesisch, was einerseits die Entschlossenheit zeigt, sich an das Bild dieser innerchinesischen Stadt anzupassen, andererseits aber auch für die Offenheit und Toleranz der Einwohner von Wuhan steht. Und einige ehemalige Wohnhäuser wohlhabender chinesischer Händler sehen äußerst westlich-europäisch aus, denn das war damals die Mode. Vergleichbar mit den Shanghaier Longtang gab es auch in Wuhan eine besondere Wohnform, die chinesische und westliche Elemente miteinander verband, die sogenannten Lifen. Sie vereinten die Offenheit westlicher Blockbebauung und die Intimität traditioneller chinesischer Wohnhöfe. Ich nenne sie das Wuhaner „Manifest des Urbanismus“.

Die ehemaligen Konzessionen von Hankou

In Hankou gab es ehemals Konzessionen von fünf Nationen und die Erinnerungen der alten Hankou‘er sind eng damit verbunden. Hier entstanden eine erste moderne Bürgergesellschaft und städtische Verwaltung und Infrastruktur. Während die Konzessionen schon lange nicht mehr existieren, sind die Gebäude noch da und dokumentieren diesen für China etwas zwiespältigen Abschnitt der Geschichte. Gemäß dem System der Hierarchie der Kultur und der Überlegenheit der westlichen Kultur, symbolisieren die Konzessionen die Demütigung Chinas sowie Kulturimperialismus und eine „Jagd auf die Seele“ aller Chinesen. Diese Wahrnehmung hat lange Zeit Debatten darüber befeuert, inwieweit es sich bei den Gebäuden um kulturelles Erbe handelt, und auch zum Abriss eines Teils der Bauten geführt. Wenn man die Definition von Kultur von John Tomlinson heranzieht, dass Menschen ihrem Verhalten und ihren Erfahrungen selbst eine Bedeutung zuschreiben und die Umstände ihres Lebens erklären, dann sind diese von außen herbeigebrachten, verwitterten Dinge schon lange ein Teil des Lebens der Wuhaner und Teil einer Geschichte, die nicht ausgelöscht werden kann.

Kultur ist an sich ein neutraler Begriff. Ob etwas als Kulturvermittlung oder kulturelle Invasion aufgefasst wird, ist in meinen Augen nur ein Unterschied der Einstellung. Das Wichtige beim Kulturaustausch ist die aufrichtige Motivation. Um es mit Martin Luthers zu sagen, sollte auch Kulturaustausch nach dem Prinzip des „sola fide“ beurteilt werden, d.h., der Glaube zählt, und nicht die „guten Taten“. Wenn das Aufeinandertreffen von Kulturen aus einem aufrichtigen Austausch geboren wird, dann ist es wert, toleriert und respektiert zu werden. Wie aber die Aufrichtigkeit zu bewerten ist, das, so meine ich, werden die Menschen in ihrem Innersten wissen.

 

Über den Autor

  • Yang Fan (杨帆) ist unabhängiger Kulturkritiker, Gründer der NGO China Endangered Culture Protectors (CECP), Mitglied von Stadtmacher China – Deutschland sowie internationaler Gastwissenschaftler und Kulturreisender. Er forscht u.a. zur Entwicklung von städtischen und ländlichen Räumen.

Übersetzung

  • Maja Linnemann

 

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