Im historischen Bewusstsein der heutigen Wuhaner allerdings nimmt diese Epoche eine kleinere Rolle ein. Wer einen Wuhaner nach der Geschichte seiner Stadt befragt, dem werden vor allem die historischen Ereignisse im 20. Jahrhundert berichtet, die unausweichlich auf die Gründung der Volksrepublik 1949 hinführen. Die chinesische Revolution von 1911/12, an deren Ende die Qing-Dynastie gestürzt wurde, nahm in den Militärbaracken von Wuchang ihren Anfang, nicht etwa in Peking. 1926 wurde Hankou von den Guomindang-Truppen, also den Nationalisten, unter Chiang Kaishek eingenommen, die auch den Vorstand der britischen Konzession durch eine chinesisch-britische Verwaltung ersetzten. Die Wuhan-Städte waren auch Schauplatz des Konflikts zwischen den Kommunisten und den Nationalisten, wobei die Nationalisten ihr Hauptquartier in Hankou einrichteten und die Kommunisten einen Stützpunkt in Wuchang unterhielten. Eine besonders große Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit erhielten die drei Städte während der 1930er Jahre, als Hankou kurzzeitig nach der Einnahme der Republikhauptstadt Nanjing durch die Japaner die chinesische Hauptstadt wurde.⁶ Im erbitterten Widerstand der Stadt gegen die Japaner fanden zahlreiche europäische Aktivisten, Literaten und auch Fotografen eine Parallele zum spanischen Bürgerkrieg, und so trafen sich in Hankou 1938 nicht nur die wichtigsten nationalistischen und kommunistischen chinesischen Politiker, sondern auch der Magnum Fotograf Robert Capa, Agnes Smedley, WH Auden und Christopher Isherwood, die ausführlich in europäischen und amerikanischen Zeitungen über die „Schlacht von Wuhan“ 1938 berichteten. Im Oktober 1938 fiel Wuhan in die Hand der Japaner, die sie bis 1945 besetzt hielten. 1949 wurden die drei Städte von den kommunistischen Truppen eingenommen.
Nach 1949 baute Mao Zedong die drei Wuhan-Städte zu einem industriellen Zentrum für insbesondere Stahl, Chemikalien und Elektrizität aus, nach der Öffnung 1978 durch Deng Xiaoping erhielt vor allem die Glasfasertechnik und die Automobilindustrie neue Impulse, insbesondere auch in Kooperation mit Frankreich. Wegen seiner zentralen Bedeutung für die Geschichte der Volksrepublik China hat Wuhan immer die besondere Aufmerksamkeit der Regierung genossen, insbesondere auch bei der Bekämpfung der katastrophalen Hochwasser, von denen die Stadt regelmäßig heimgesucht wird. COVID 19 ist deswegen eine besondere Bewährungsprobe für den chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping, an einem neuralgischen Ort Zentralchinas mit Sonderstellung in der Geschichte Chinas. Das europäische Erbe der Stadt indes wird erst in jüngerer Zeit wieder in die Erzählungen zur Stadtgeschichte integriert. Sehr aufschlussreich wird sie dargestellt in einem Museum im jüngst wiedereröffneten Customs House in der Jiangnan Road, die alle Aspekte der jüngeren und älteren Geschichte Wuhans beleuchtet, ein Besuch ist für alle, die sich für dieses Kapitel in der Geschichte Hankous interessieren, sehr zu empfehlen.
Fußnoten
[1] Little, Archibald: The Far East, Oxford 1905, S. 94.
[2] Zitiert nach Rowe, William T.: Hankow. Commerce and Society in a Chinese City, 1796-1889, Stanford 1984, S. 23.
[3] Rowe, William T.: Hankow, 1984, S. 19 ff.
[4] Wong, J. Y.: Deadly Dreams: Opium, Imperialism and the Arrow War (1856-1860) in China, Cambridge 2002.
[5] Zur Architektur in der deutschen Konzession siehe z.B. Warner, Torsten: Deutsche Architektur in China. Architekturtransfer, Berlin 1994, S. 140-153. Siehe auch: Rihal, Dorothee: La concession française de Hankou (1896-1943): de la condamnation à l`appropriation d`un heritage, Paris 2007.
[6] Siehe hierzu vor allem: MacKinnon, Stephen R.: Wuhan 1938: War, Refugees and the Making of Modern China, Berkeley 2008.
Über die Autorin
Dr. Ines Eben v. Racknitz ist Associate Professor an der School of History der Nanjing University. Ihr Studium der Literaturwissenschaft, Sinologie und Religionswissenschaft in Leipzig, Peking und an der Stanford University schloß sie 2003 an der Freien Universität ab und promovierte anschließend an der Universität Konstanz. Seit 2011 lehrt und forscht sie an der Universität Nanjing zur Geschichte der späten Kaiserzeit in China, zu China in der Globalgeschichte, sowie zur Kartographiegeschichte. Im Jahr 2012 erschien ihr Buch zur Plünderung des Sommerpalastes in Peking 1860 beim Steiner Verlag in Stuttgart. Seit 2012 ist Ines Eben v. Racknitz bei den Shanghaier Flaneuren aktiv, Schwerpunkt sind hier Führungen und Vorträge zur internationalen Geschichte von Shanghai.