Wuhan im Kontext: Wuhan’s Bedeutung im frühen 20. Jahrhundert

Published September 2020
Location Wuhan
Bund Hankow

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Die globale Epidemie Covid-19 hat mit Wuhan als vermutlichem Ursprungsort eine Stadt ins Zentrum des weltweiten Interesses gestellt, deren bedeutende Stellung im globalen kosmopolitischen Städtegeflecht des frühen 20. Jahrhundert im Westen nahezu in Vergessenheit geraten ist.

Seit der wirtschaftlichen Öffnung Chinas in den späten 1970er Jahren richtete sich der Fokus im Wesentlichen auf die Hauptstadt Peking und die Küstenstädte Shanghai und Kanton. In der globalen Perspektive des 19. Jahrhunderts jedoch hätte dazu unbedingt auch noch Hankou gehört, um 1900 eine der größten weltweiten Handelsmetropolen und bekannt als „Chicago des Ostens,“ wie es in einem amerikanischen Magazin um 1900 zum ersten Mal genannt wird, ebenso wie 1905 vom britischen Kaufmann Archibald John Little.¹ Der amerikanische Missionar David Hill beschreibt die Stadt in den 1880ern wie folgt: „Commercially considered, Hankow is one of the most important cities of the East. To it, the native merchants, not only from all parts of Hupeh province, but from all the surrounding Provinces for hundreds of miles, go up. It is the rendezvous of the foreign merchant and the native buyer in central China – a wonderful emporium for trade – a Chinese cosmopolitan city.”² Hankou ist heute Teil der „Drillingsstadt“ und Metropolregion Wuhan, zusammen mit den anderen beiden Städten Hanyang und Wuchang. Im Herzen von Zentralchina gelegen, am Zusammenfluss des mittleren Yangtze des Han-Flusses, ist Wuhan sehr gut auf dem Land- und Wasserweg zu erreichen, und liegt zudem genau in der Mitte zwischen den heutigen fünf chinesischen Großregionen Peking, Shanghai, Guangzhou und Chongqing.

Heute nimmt Wuhan innerhalb des chinesischen Städtenetzwerkes nicht nur als boomende Handelsstadt eine wichtige Rolle ein, sondern ist vor allem auch ein Erinnerungsort für prägende historische Ereignisse, die für das historische Selbstverständnis der Volksrepublik China im 20. Jahrhundert konstituierend sind. Die Geschichte der Stadt reicht bis ins Altertum zurück: Wuchang ist schon für die Westliche Zhou-Zeit (1044-761 v. Chr.) als Verwaltungssitz nachgewiesen und fungierte auch als Hauptstadt des Königreiches Wu in der Zeit der Streitenden Reiche (220 bis 280 n. Chr.).³ Hanyang entwickelte sich während der Song-Dynastie (960-1279 n. Chr.) zu einem kleinen Handelsort, stand aber immer im Schatten des benachbarten Hankou (damals Xiakou), das sich ab dem 12. Jahrhundert zu einer der vier bedeutendsten Handelsstädte in China entwickelte und es bis ins 20. Jahrhundert bleiben sollte. Im 19. Jahrhundert, zur Zeit der Taipingrevolte (1852-1864), hatte die florierende Handelsstadt Hankou, in der hauptsächlich Tee und Baumwolle gehandelt wurde, eine Million Einwohner. Im zweiten Opiumkrieg von 1858 bis 1860 unterlag das chinesische Reich im Chinafeldzug von 1860 Großbritannien und Frankreich und wurde in den Verträgen von Tianjin (1858) und Peking (1860) dazu gezwungen, ausländische Botschaften in Peking zuzulassen, mehrere Handelshäfen an der Küste für den offiziellen Handel mit dem Westen zu öffnen und eben auch Hankou im Landesinneren am Yangtze.⁴ Damit wurde die Stadt zum Schauplatz und Wirkungsort der europäischen und später auch der deutschen kolonialen Bestrebungen.

Customs House © Yuan Yuan

Zwischen 1861 und 1896 musste Hankou Teile der Stadt als Konzessionen (Pachtgebiete) an Briten, Franzosen, Japaner, Deutsche und Russen abtreten. Alsbald wurden ausländische Architekten damit beauftragt, am Ufer des Yangtze Gebäude im europäischen Konzessionsstil ähnlich wie in Tianjin, Shanghai und Guangzhou zu errichten, mit Granitmauern, Kolonnaden, roten Ziegeldächern und Türmen, die zum Sitz der wichtigsten westlichen Handelsniederlassungen und Konsulate wurden.⁵ Im Zentrum der europäisch anmutenden Konzessionen, zu denen die chinesische Bevölkerung Hankous nur begrenzt Zugang hatten, stand das Hankou Customs Office, das Zollamt, und in der eleganten Jianghan Road wurden Waren aus aller Herren Länder umgeschlagen. Wenngleich das Konzessionsleben bis heute in der Kolonialarchitektur im Stadtbild Spuren hinterlassen hat, war doch die Epoche recht kurz, die deutsche Konzession beispielsweise gab es von 1895 bis zum Ende des 1. Weltkrieges 1917.

Deutsches Konsulat, Hankow

Im historischen Bewusstsein der heutigen Wuhaner allerdings nimmt diese Epoche eine kleinere Rolle ein. Wer einen Wuhaner nach der Geschichte seiner Stadt befragt, dem werden vor allem die historischen Ereignisse im 20. Jahrhundert berichtet, die unausweichlich auf die Gründung der Volksrepublik 1949 hinführen. Die chinesische Revolution von 1911/12, an deren Ende die Qing-Dynastie gestürzt wurde, nahm in den Militärbaracken von Wuchang ihren Anfang, nicht etwa in Peking. 1926 wurde Hankou von den Guomindang-Truppen, also den Nationalisten, unter Chiang Kaishek eingenommen, die auch den Vorstand der britischen Konzession durch eine chinesisch-britische Verwaltung ersetzten. Die Wuhan-Städte waren auch Schauplatz des Konflikts zwischen den Kommunisten und den Nationalisten, wobei die Nationalisten ihr Hauptquartier in Hankou einrichteten und die Kommunisten einen Stützpunkt in Wuchang unterhielten. Eine besonders große Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit erhielten die drei Städte während der 1930er Jahre, als Hankou kurzzeitig nach der Einnahme der Republikhauptstadt Nanjing durch die Japaner die chinesische Hauptstadt wurde.⁶ Im erbitterten Widerstand der Stadt gegen die Japaner fanden zahlreiche europäische Aktivisten, Literaten und auch Fotografen eine Parallele zum spanischen Bürgerkrieg, und so trafen sich in Hankou 1938 nicht nur die wichtigsten nationalistischen und kommunistischen chinesischen Politiker, sondern auch der Magnum Fotograf Robert Capa, Agnes Smedley, WH Auden und Christopher Isherwood, die ausführlich in europäischen und amerikanischen Zeitungen über die „Schlacht von Wuhan“ 1938 berichteten. Im Oktober 1938 fiel Wuhan in die Hand der Japaner, die sie bis 1945 besetzt hielten. 1949 wurden die drei Städte von den kommunistischen Truppen eingenommen.

Nach 1949 baute Mao Zedong die drei Wuhan-Städte zu einem industriellen Zentrum für insbesondere Stahl, Chemikalien und Elektrizität aus, nach der Öffnung 1978 durch Deng Xiaoping erhielt vor allem die Glasfasertechnik und die Automobilindustrie neue Impulse, insbesondere auch in Kooperation mit Frankreich. Wegen seiner zentralen Bedeutung für die Geschichte der Volksrepublik China hat Wuhan immer die besondere Aufmerksamkeit der Regierung genossen, insbesondere auch bei der Bekämpfung der katastrophalen Hochwasser, von denen die Stadt regelmäßig heimgesucht wird. COVID 19 ist deswegen eine besondere Bewährungsprobe für den chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping, an einem neuralgischen Ort Zentralchinas mit Sonderstellung in der Geschichte Chinas. Das europäische Erbe der Stadt indes wird erst in jüngerer Zeit wieder in die Erzählungen zur Stadtgeschichte integriert. Sehr aufschlussreich wird sie dargestellt in einem Museum im jüngst wiedereröffneten Customs House in der Jiangnan Road, die alle Aspekte der jüngeren und älteren Geschichte Wuhans beleuchtet, ein Besuch ist für alle, die sich für dieses Kapitel in der Geschichte Hankous interessieren, sehr zu empfehlen.

Fußnoten

[1] Little, Archibald: The Far East, Oxford 1905, S. 94.
[2] Zitiert nach Rowe, William T.: Hankow. Commerce and Society in a Chinese City, 1796-1889, Stanford 1984, S. 23.
[3] Rowe, William T.: Hankow, 1984, S. 19 ff.
[4] Wong, J. Y.: Deadly Dreams: Opium, Imperialism and the Arrow War (1856-1860) in China, Cambridge 2002.
[5] Zur Architektur in der deutschen Konzession siehe z.B. Warner, Torsten: Deutsche Architektur in China. Architekturtransfer, Berlin 1994, S. 140-153. Siehe auch: Rihal, Dorothee: La concession française de Hankou (1896-1943): de la condamnation à l`appropriation d`un heritage, Paris 2007.
[6] Siehe hierzu vor allem: MacKinnon, Stephen R.: Wuhan 1938: War, Refugees and the Making of Modern China, Berkeley 2008.

Über die Autorin

Dr. Ines Eben v. Racknitz ist Associate Professor an der School of History der Nanjing University. Ihr Studium der Literaturwissenschaft, Sinologie und Religionswissenschaft in Leipzig, Peking und an der Stanford University schloß sie 2003 an der Freien Universität ab und promovierte anschließend an der Universität Konstanz. Seit 2011 lehrt und forscht sie an der Universität Nanjing zur Geschichte der späten Kaiserzeit in China, zu China in der Globalgeschichte, sowie zur Kartographiegeschichte. Im Jahr 2012 erschien ihr Buch zur Plünderung des Sommerpalastes in Peking 1860 beim Steiner Verlag in Stuttgart. Seit 2012 ist Ines Eben v. Racknitz bei den Shanghaier Flaneuren aktiv, Schwerpunkt sind hier Führungen und Vorträge zur internationalen Geschichte von Shanghai.

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